Blässgans "Irgendwo müssen wir ja hin"

Kleve · Immer wieder im Winter kommen die Wildgänse an den Niederrhein - auch in den Kreis Kleve. Warum gerade hierher? Wann fliegen sie wieder weg? Ein "gans" ernst gemeintes Gespräch.

Liebe Wildgans, wir müssen uns doch sehr wundern: Seitdem wir denken können, sitzen Sie im Winter auf unseren Feldern am Niederrhein. Und obwohl sich Bauern beschweren, dass sie deren Felder abfressen, kehren Sie immer wieder zurück. Was wollen Sie hier?

Wildgans Im Sommer leben wir im nördlichsten Russland. Sibirien, Sie wissen schon. Können Sie sich vorstellen, wie saukalt es dort im Winter ist? Das hält doch keine Wildgans aus. Sie hier am Niederrhein wiederum haben auch im Winter ein angenehmes Klima. Übrigens: Sie dürfen mich gerne Blässgans nennen. Es gibt verschiedene Arten von uns Wildgänsen. Mich erkennt man an der hellen Stelle um den Schnabel.

Naturschützer sagen, im Bereich zwischen Duisburg und Nimwegen würden im Winter inzwischen 180.000 arktische Gänse leben. Übrigens nicht nur Blässgänse. 14 Arten von Gänsen und Halbgänsen seien gesichtet worden. Warum fliegen Sie nicht weiter dahin, wo es wirklich warm ist?

Wildgans Eure Niederrhein-Winter sind doch was für Warmduscher. Während es im Osten Deutschlands noch richtig kalt ist, finden wir hier eigentlich immer Gräser und Seggen - und auf den Feldern mit den Wintersaaten der Landwirte bekommen wir die Nahrung auf dem Silbertablett serviert. Köstlich! Wir werden außerdem hier nur selten gestört, und es gibt ein reiches Angebot an Schlafgewässern. Diese Baggerseen, die ihr am Niederrhein habt, sind spitzenmäßig. Kurzum: Was würden Sie machen, wenn Sie Gans wären?

Nun ja, ich würde zumindest registrieren, dass ich vielen Menschen keine Freude mit meiner Präsenz mache, weil ich deren Nahrung esse. Aus dem Korn, was da auf den Feldern steht, soll irgendwann mein Brot werden.

Wildgans Sie glauben, dass die Menschen mich nicht mögen? Wie erklären Sie sich dann, dass die Menschen in Scharen zu den Feldern fahren und mich fotografieren oder mich mit Ferngläsern beobachten. Wenn ich mal auf dieser Bislicher Insel sitze, die bei vielen meiner Artgenossen sehr beliebt ist, dann staune ich immer. Das sollen alles Naturliebhaber sein, sagt man sich unter uns Gänsen. Ich frage mich aber: Warum kommen die dann alle mit Bussen und Autos angerollt? Gänsesafaris wird das genannt. Die Leute zahlen da wirklich Geld für. Unglaublich.

Vielleicht sind wir fasziniert von Ihrer Gruppendynamik. Eine Gans fliegt vorne, alle anderen bilden einen Keil. Für uns ist das alljährlich das Zeichen, dass der Winter kommt und wieder geht.

Wildgans Sehen Sie, jetzt werde ich Ihnen doch noch sympathisch. Sie müssen halt genau hinhören, sich in meine Lage versetzen. Kennen Sie Nils Holgersson, dieses Kinderbuch? Der Typ hat uns auch erst geärgert. Später haben wir ihn mit auf eine Reise genommen. Da wurde er unser Freund. Sagt Ihnen der Name Konrad Lorenz was? Berühmter Gänseforscher. Dufter Typ, sagt man sich in Gänsekreisen. Zwar ein Nazi, was wir auch im postsowjetischen Russland immer noch nicht so toll finden. Dafür hat er "Das Gänsekind Martina" geschrieben. Darin beweist er, was für uns Gänse ebenso wie für Euch Menschen gilt: Küken halten das erste bewegliche Objekt, das sie nach dem Schlüpfen erblicken, für ihre Mutter. Er hat auch den Beschützerinstinkt der Mutter entdeckt. "Kindchenschema" sagt man heute.

Sie lenken ab, Frau Blässgans. Sie versuchen jetzt auf perfide Art, Verständnis zu wecken. Sie wissen: Immer wieder wird in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, in dem Sie sich hier gerade aufhalten, über das Abschießverbot für Wildgänse diskutiert. Die Grünen in der NRW-Landesregierung wollen Sie aber immer schützen. Deshalb ist der grüne Minister Remmel nicht bei allen Landwirten beliebt.

Wildgans Wer ist dieser Remmel? Toller Typ. Richten Sie ihm herzliche Grüße aus. Im Ernst: Natürlich verstehe ich, dass wir manchem zur Last fallen. Aber hey: Wir haben die Regeln nicht gemacht. Und irgendwo müssen wir ja auch hin. Meist äsen wir doch nur in kleinen Gruppen wenige Tage, drei bis fünf auf einer Fläche, und ziehen dann weiter. Ich habe übrigens gehört, dass die Landwirte seit einiger Zeit für Weideschäden finanzielle Hilfe vom Staat bekommen.

Seit 1986, um genau zu sein. Seitdem verpflichten sich Landwirte, Sie in Ruhe zu lassen. Bei Weideschäden kommt ein Gutachter raus und stellt die Höhe des Schadens fest. Die Zahlungen werden immer mehr. 2001/2002 lagen sie noch bei 1,4 Millionen Euro, 2011/2012 schon bei vier Millionen Euro. Und es geht ja nicht nur um den Fraß. Sie trampeln ja auch den Boden platt. Pflanzen können nicht keimen.

Wildgans Sie sprechen von Bodenverdichtung? Dann sage ich Ihnen: Eine Blässgans wie ich wiegt vielleicht drei Kilogramm. Ein Trecker wiegt ein Vielfaches dessen. Außerdem dürfen die Menschen doch auf Wildgänse schießen. Ich habe gelesen, dass allein 2009/2010 insgesamt 11.000 Wildgänse in NRW geschossen worden sind. Nur vom 15. Oktober bis 31. Januar gilt absolutes Jagdverbot auf Gänse. Wenn wieder gejagt werden darf, sind wir auswärtigen Gänse zum Glück meist schon wieder weg.

Werden wir mal konkret: Wann ziehen Sie wieder ab? Und wann müssen wir wieder mit Ihrem Erscheinen rechnen?

Wildgans Sie erwischen mich quasi auf der Abreise. Die meisten Gänse halten sich hier am Niederrhein bis Ende Januar auf. Das variiert allerdings je nach Witterung von Jahr zu Jahr. Von Mitte März bis Ende Mai geht es über Ostdeutschland, das Baltikum, Weißrussland bis in die arktische Tundra. Dort brüten wir von Juni bis August. Dort müssen wir uns beeilen. Wenn die Schneeschmelze sich verzögert oder der Winter zu früh kommt, dann schaffen wir es nicht, die Jungen aufzuziehen. Dann müssen wir schneller wieder weg. Sie können sich vorstellen, dass einem das sehr schwerfällt. Die ersten Gänse kommen dann Anfang November wieder. Wann ich selbst wieder rüberfliege, mache ich von der Tagesverfassung abhängig. Für mich steht aber fest: Nächstes Jahr sehen Sie mich wieder.

Sebastian Peters führte das Gespräch (und machte sich vor diesem fiktiven Interview in einschlägiger Literatur zu Gänsen schlau).

(RP)
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