Gundula wird mir heute aus der Hand lesen und mir die Karten legen. Sie empfängt mich herzlich. Ihr Wohnwagen ist klein und schnuckelig. An den Fenstern hängen blaue Kindergardinen mit Sonne, Mond und Sternen drauf. "Vorsicht", sagt Gundula, als ich mich hinsetzen will. "Die schmale Bank ist sehr tief." Hat sie etwa gesehen, dass ich tollpatschig bin und mir gerne wehtue? Ich lasse mich nicht beirren und strecke Gundula die Hand entgegen. Natürlich erstmal die falsche. "Ich lese aus der linken", sagt sie. Die Hand ist mein Schicksal, lerne ich. Die Linien, die dort verlaufen, sagen etwas über mein Leben, meinen Beruf, die Liebe aus. Dass ich uralt werde, finde ich schon mal gut. Aber sagt Gundula das nicht jedem, der ihr gegenüber sitzt? Ich lasse sie weitermachen. Mit ihrem goldenen Zeigestift fährt sie über meine Handfläche.

Es kitzelt ein bisschen. Manchmal nimmt sie eine Lupe zur Hilfe. Ich bin ein kluges Mädchen, fährt sie fort. Hätte sie meine Hand gelesen, als ich noch ein Kind war, hätte sie meinen Eltern geraten, mich aufs Gymnasium zu schicken, um Abitur zu machen. Wenn das meine Mutter hätte hören können. Jahrelang habe ich sie verflucht, dass ich auf das doofe Gymnasium musste, wo doch alle meine Freunde auf der Realschule nicht so viel haben lernen müssen.

Plötzlich wird es interessant: "Sie haben Zwillinge in der Familie", sagt Gundula. Stimmt, sage ich. Meine Mutter hat eine Zwillingsschwester. Aber woher wusste Gundula das? Ich habe kein Sterbenswörtchen darüber verloren. Ich bin verblüfft. Und noch ein bisschen mehr, als Gundula voraussagt, dass ich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch welche bekomme. Meine Gedanken schweifen ab, Zwillinge... Oh mein Gott! Gleich zwei Schreihälse, zwei Mal stinkige Windeln, und erst der riesige Kinderwagen.

Als Gundula sich meine Herzlinie vornimmt, finde ich langsam wieder zu mir. Ein gesundes und großes Herz soll ich haben, sagt sie. Klar, wer würde jetzt was anderes von sich behaupten. Also stimme ich zu. Und dass eine zweckgebundene Partnerschaft nichts für mich wäre. Vom Hocker reißt mich das nicht, ich mache es Gundula allerdings auch nicht einfach. Ich verrate ihr nicht viel, ab und zu nicke ich. So sieht mein Leben also aus, lang, voller Liebe und mit zwei Kindern, die ich sicher nie auseinanderhalten werde. Jetzt will Gundula für mich orakeln, die nahe Zukunft. Das, was in den nächsten zwei Jahren passiert.

Sie mischt einen Kartenstapel, den ich zwei Mal abheben muss. Ruck zuck entsteht ein Muster auf dem Tisch, Gundula dreht die Karten um und macht eine Siegerfaust. Cool, denke ich, sowas macht sie bestimmt nicht immer. "Die Karten liegen gut", bestätigt sie ihre Geste. Ich, die Herzdame, liege in der Mitte. Unten rechts wartet mein Herzkönig. "Wenn es ihn noch nicht gibt, wird er in der nächsten Zeit kommen", prophezeit Gundula. Ich helfe ihr ein bisschen und verrate, dass es einen gibt. Über dem König liegt eine Karte, die eine dunkle Frau zeigt. Eine Frau im Leben meines Partners, die mir nicht wohlgesonnen ist. "Die Schwiegermutter", sagt Gundula. Noch habe ich keine, aber ich bin gespannt, wenn es soweit ist.

In meinem Leben gibt es aber noch einen anderen Mann, einen jüngeren. "Sie haben einen Bruder", sagt Gundula. Ich nicke. Sie sieht, dass mein Bruder bald den großen Schritt wagen will. "Sagen Sie ihm, er soll sich Zeit lassen", rät Gundula. Na, der wird sich freuen, wenn er mir von seinen Hochzeitsplänen berichtet und ich ihm sage: "Lass dir Zeit."

Dann geht es wieder zurück zu mir. Die beste Nachricht spart sich Gundula bis zum Schluss auf: Ich habe das Glückslos gezogen, die Karte der Erfüllung.

Zugegeben: Ich bin wirklich skeptisch an die Sache rangegangen, und klar, ein paar Sachen waren sehr allgemein formuliert, ein bisschen so wie bei Horoskopen. Die passen ja auch immer irgendwie. Aber: Ein paar Sachen hat Gundula wirklich nicht wissen können, zum Beispiel das mit meinem Bruder. Wer sich drauf einlässt, der wird Spaß haben dabei, und wer würde sich nicht ein langes und erfülltes Leben wünschen?

Nur über die Zwillinge müssen Gundula und ich noch mal näher reden.