Rp-Serie Wegekreuze (1) Jedes Kreuz erzählt eine Geschichte

Kleve · In unserer neuen RP-Serie werden die Wegekreuze der Region vorgestellt. Das Gedenkkreuz der Familie Rehaag in Nierswalde gibt Zeugnis von Vertreibung und Neuanfang - und erzählt einen Teil der Dorfgeschichte.

 Adolf Rehaag am Wegkreuz Waldstraße/Kesseler Straße in Nierswalde, das er 1954 als junger Schreinergeselle gefertigt hat.

Adolf Rehaag am Wegkreuz Waldstraße/Kesseler Straße in Nierswalde, das er 1954 als junger Schreinergeselle gefertigt hat.

Foto: Stade

Goch Wegekreuze, Bildstöcke, Gedenkkreuze gehören mancherorts schon viele Jahrzehnte zum Landschaftsbild, sind unterschiedlich gestaltet und vor allem: jedes einzelne Kreuz am Wegesrand erzählt seine eigene Geschichte. "An jedem Bildstock hängen Lebensgeschichten", sagt Josef Alfers, emeritierter Domprobst im Bistum Münster.

Dies gilt auch für das Wegekreuz am Ortseingang von Nierswalde. Wo Kesselerstraße und Waldstraße aufeinandertreffen, steht es auf dem Feld. Auf einer Tafel ist zu lesen: "Kyrie eleison gesetzt am 28. 6. 1954 Familie Rehaag Ermländer Ostpreußen". Das Holzkreuz hat Adolf Rehaag, Jahrgang 1934, als Schreinergeselle selbst gefertigt. Es gibt Zeugnis vom Ende einer Vertreibung mit vielen Schicksalsschlägen und von der Dankbarkeit, nach langer Suche endlich wieder eine Heimat gefunden zu haben.

Adolf Rehaag erinnert sich: "Am 8. Januar 1947 verließen wir unseren Heimatort Wernegitten im Ermland/Ostpreußen. Tagelang waren wir im Güterzug unterwegs, es gab kaum etwas zu trinken, nichts zu essen. Unser erster Aufenthalt war Schönebeck bei Magdeburg in einem Lager, das vorher ein Kriegsgefangenenlager war." Luzia Rehaag, seine Mutter, war mit sechs ihrer zwölf Kinder unterwegs und auf sich alleine gestellt. Der Vater der Kinder war bereits 1939 an Typhus gestorben. Auch die Krankengeschichte des Vaters war für die Kinderschar eine traumatische Erfahrung. "Der Arzt hatte Diphterie und Typhus verwechselt und falsch behandelt", erzählt Rehaag. Vom Lager in Schönebeck aus war die Suche nach einer Bleibe schwierig. Von einem Lager in Wipperfürth aus ging es nach Monschau auf einem Lastwagen-Anhänger ohne Plane. Aber der Monschauer Bürgermeister wollte die Vertriebenen nicht aufnehmen. Inzwischen waren einige Geschwister Adolf Rehaags in verschiedene Orte Deutschlands gegangen und hatten Arbeit gefunden. Ein Bruder war in Pfalzdorf gelandet und arbeitete bei einem Bauern.

Luzia Rehaag hatte von der Fahrt auf dem offenen Anhänger eine schwere Augenentzündung bekommen. "Wir wollten zu meinem Bruder nach Pfalzdorf, aber der Kreis Kleve war Sperrbezirk. Doch der Pfalzdorfer Gemeindedirektor Kühnen hat uns geholfen." Die Familie fand Zuflucht auf der Reuterstraße auf dem Hof der Familie Planken. Aber auch dort konnten sie nicht dauerhaft bleiben. Neue Hoffnung auf ein eigenes Zuhause schöpften sie, als auf dem Gebiet des heutigen Nierswalde 128 Siedlungsplätze angeboten wurden. Luzia Rehaag bekam einen davon und konnte mit sechs ihrer Kinder neu anfangen. "Wenn wir eine neue Heimat finden, setzen wir ein Kreuz oder eine kleine Kapelle", das hatte sie sich fest vorgenommen. Daheim im Ermland gab es viele solcher Zeichen am Weg. Auch neben dem Elternhaus der Rehaags in Wernegitten hatte die Familie eine kleine Kapelle mit einer Marienfigur gesetzt. Nun, da sie wieder ein eigenes Dach über dem Kopf hatten, wurde dies verwirklicht. In den 60er Jahren mussten die Rehaags das Kreuz um einige Meter vom Gemeindegrund aufs eigene Feld versetzen. Es hatte sich ein Konflikt entzündet wegen des katholischen Kreuzes in einer vorwiegend evangelischen Siedlung. Hans-Joachim Koepp beschreibt in einem Beitrag zum Sonderband "Siedlungsprojekt Reichswald 1950 - 2000" über den "Kruzifix-Streit", dass sich Gemeinderat und Luzia Rehaag zunächst nicht einigen konnten. Erfolgreich vermittelte der damalige Dechant von Goch, und die Gemeinde beteiligte sich an den Kosten der Versetzung. "Von diesem Konflikt ist nichts mehr übrig. Das ist lange vorbei", betont der Vorsitzende des Nierswalder Heimatvereins, Gerd Engler.

Vor zwei Jahren initiierte der Heimatverein eine Restaurierung des Kreuzes, nicht zuletzt auch aus Anlass der Flüchtlingskrise 2016. "Zum zweiten finden wir, dass das Kreuz ein wichtiges, erhaltenswertes Denkmal unserer Dorfgeschichte ist", so Engler. Fördergelder für die Restaurierung mit einem neuen, wieder gut lesbarem Schild kamen von der Volksbank-Stiftung für Heimatpflege und Brauchtum.

(RP)
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