Bedburg-Hau Schüler geben Nazi-Opfern ein Gesicht

Bedburg-Hau · 18 Jugendliche der Karl Kisters Realschule thematisieren die Kinder-Euthanasie im Nationalsozialismus in einer Projektwoche. In Anlehnung an das Theaterstück "Ännes letzte Reise" denken sie sich selbst eine Szenencollage aus.

 Die 18 Schüler der Karl-Kisters Realschule Kleve beenden ihr Stück mit dieser Szene.

Die 18 Schüler der Karl-Kisters Realschule Kleve beenden ihr Stück mit dieser Szene.

Foto: Klaus-Dieter Stade

18 Schüler stehen in einem dunklen Raum nebeneinander. Ernste Gesichter. Die Wände sind kahl. Jeder sagt einen Satz: "Das haben sie dann Euthanasie-Programm genannt." "Das schwere Wort sollte von dem Verbrechen ablenken." "Mit der Aktion 'T4' wurde der Massenmord an Menschen mit Behinderung und psychischen Krankheiten geplant".

Mit dieser Szene schließen die Schüler der zehnten Klasse der Karl Kisters Realschule Kleve ihre Szenencollage "Waldniel" zum Thema Kinder-Euthanasie im Nationalsozialismus ab. Die Szenen und die Texte haben sie sich selbst ausgedacht und mit der Theaterleitung Crischa Ohler und Sjef van der Linden im Theater "mini-art" umgesetzt. Die beiden Geschichtslehrerinnen Kristina Hegemann und Valerié Vauzanges helfen wo sie können und gehen auf die Fragen der Schüler ein. Das Projekt wird unterstützt vom Land NRW, vom LVR, dem Fonds für Soziokultur und maßgeblich von der Stiftung EVZ (Erinnerung, Verantwortung, Zukunft) Berlin.

Das mini-art-Theater wollte mit Jugendlichen ein Stück aufführen, das wie in "Ännes letzte Reise" die Euthanasie im Nationalsozialismus thematisiert. Ausgangspunkt für das Theaterstück ist der dokumentierte Fall der Anna Lehnkering, genannt Änne, die von 1936 bis 1940 Patientin der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau war. Am 7. März 1940 wurde sie in eine Vernichtungsanstalt gebracht und dort ermordet. Es gibt mehrere Gründe dafür, warum gerade das Stück zum Thema "Kinder-Euthanasie" aufgeführt werden sollte. "Es gibt so viele namenlose Opfer, wir möchten ihnen ein Gesicht geben", sagt Ohler.

Die Jugendlichen erfüllen diese Aufgabe und werden in ihrer Aufführung zu einer Mutter, die ihr Kind nicht sehen darf; zu einem Kind, das bald sterben wird und nicht mehr nach Hause kommt; zu Krankenschwestern, die unschuldige Kinder ermorden. "Das verlangt den Schülern viel Einfühlungsvermögen ab. Aber auch für die Lehrer ist es wichtig, zu sehen, wie die Schüler sich verhalten, um den Unterricht in der Schule entsprechend gestalten zu können", sagt Helga Diekhöfer, die stellvertretende Schulleiterin der Karl Kisters Realschule. Das Ergebnis der Projektwoche wurde vor Mitschülern und der Öffentlichkeit im Theater mini-art aufgeführt.

Am Beispiel der Kinderfachabteilung Waldniel-Hostert setzen sich die Schüler in einer Projektwoche sowohl mit den historischen Fakten der planmäßigen Tötung von Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus als auch mit ihren eigenen Eindrücken und Gefühlen auseinander. Waldniel liegt in der Gemeinde Schwalmtal im Kreis Viersen. Das "Schutzengelhaus" in Waldniel gehörte als St. Josefsheim Waldniel-Hostert von 1909 bis 1937 dem Franziskaner-Orden. Der Orden kümmerte sich um 600 Hilfsbedürftige Männer, meist schwerst- und geistig behinderte Patienten mit Lern- und Körperbehinderungen. Das ehemalige "Schutzengelhaus" der Franziskaner wurde ab 1940 von den Nazis zwangsenteignet und zu einer Tötungsanstalt mit 200 Betten umgebaut. Insgesamt wurden während des Bestehens der "Kinderfachabteilung" Waldniel-Hostert 99 Kinder und Jugendliche ermordet.

Die Schüler entwickelten eine szenische Präsentation. "Es war erschreckend zu erfahren, was im Nationalsozialismus alles passiert ist. Viele Menschen wollen sich mit diesem Thema gar nicht mehr befassen", sagt die 15-jährige Elisabeth Regehr. Sie sei aber trotz dieses emotionalen Themas gerne zum mini-art Theater gekommen. "Es ist sehr mutig, dass die Schüler an dem Theaterkurs teilnehmen, weil wir hier über etwas sprechen, das bis heute noch totgeschwiegen wird", sagt Geschichtslehrerin Hegemann.

"Ist das heute wirklich alles vorbei", fragt Ohler die Schüler. Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass es in der Schule immer wieder Kinder und Jugendliche gibt, die ausgegrenzt werden. Dieses Stück ist damit auch eine Art Spiegel für den Umgang mit anderen, die Menschenrechte und für die Frage nach dem "Wert" eines Menschen. Denn im Nationalsozialismus galten Menschen mit Behinderung als "unwertes Leben". In diesem Zusammenhang spielt die Frage der Abwertung anderer, der Ablehnung von allem, was anders und fremd ist, eine bestürzend aktuelle Rolle.

(RP)
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