Kleve Wenn Deutsch die Fremdsprache ist

Kleve · In Grund- und weiterführende Schulen strömen immer mehr Kinder, die entweder kein oder nur sehr schlecht Deutsch sprechen. Nach einer aktuellen Erhebung im Kreis Kleve gehören knapp 700 Schüler dieser Gruppe an.

 Ariji, Lehrerin Müberra Kaymakci, Benjamin, Kamila und Alexandra (v. l.) lernen mit einer DaZ-Box (Deutsch als Zweitsprache), die unabhängig von der Schriftsprache effektive und altersgerechte Lernmöglichkeiten bietet.

Ariji, Lehrerin Müberra Kaymakci, Benjamin, Kamila und Alexandra (v. l.) lernen mit einer DaZ-Box (Deutsch als Zweitsprache), die unabhängig von der Schriftsprache effektive und altersgerechte Lernmöglichkeiten bietet.

Foto: Gottfried Evers

Igor* ist acht Jahre alt und besucht die dritte Klasse einer Klever Grundschule. Er geht gern zum Unterricht, denn er bringt eine gute Voraussetzung mit: Er ist äußerst wissbegierig. Igor hat nur ein Problem. Er versteht kein Wort Deutsch. Der Achtjährige ist in Russland zur Welt gekommen, besitzt mittlerweile die Staatsangehörigkeit eines Landes, das zur Europäischen Union gehört und kam im vergangenen Jahr nach Deutschland.

Im Mathematikunterricht steht Igors Lehrerin vor ihm, zeigt ihm den Daumen und sagt ganz langsam: "Eins." So fährt sie fort, bis Igor alle fünf Finger der Pädagogin sieht. Während der kleinen Übung müssen die übrigen Kinder der Klasse sich mit einer ihnen gestellten Aufgabe selbst beschäftigen.

Igor ist schon lange kein Einzelfall mehr. Die im Unterricht sprachlosen Kinder nehmen auch im Kreis Kleve stark zu. "Wir haben seit einigen Monaten einen erhöhten Zulauf von ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien", sagt Schulrätin Birgit Pontzen.

Im Dezember ermittelte Pontzen für die Grund-, Haupt- und Förderschulen des Kreises Kleve, wie viele Kinder mit keinen oder nur sehr geringen Deutschkenntnissen welche Schule besuchen, um zu wissen, wo der Bedarf für die sogenannten Integrationsstellen am größten ist. Aufgrund dieser Erhebung wurde den Schulen, die sich um die Eingliederung der Kinder kümmern, höhere Stellenanteile zugewiesen.

Wenn Kinder in den Kreis kommen, die kaum Deutschkenntnisse haben, so würden diese an den Schulen untergebracht, wo Deutsch als Zweitsprache (DaZ) angeboten wird und diese Stellenanteile eingesetzt wären, so Pontzen. Die Schulrätin erklärt, die Schüler erhielten dort täglich zwei bis drei Stunden Deutschunterricht und nähmen sonst am regulären Schulbetrieb ihrer Stammschule teil.

Knapp 700 Schüler, die keine oder nur geringe Deutschkenntnisse besitzen, besuchten im Dezember 2013 eine Grund-, Haupt- oder Sonderschule im Kreis Kleve. Diese Kinder verteilen sich auf 57 Schulen. Vor einem Jahr war diese Zahl erheblich geringer (genaue Angaben gibt es darüber nicht). 12,5 Stellen sind von der Bezirksregierung dem Kreis aufgrund der steigenden Zahl von Schülern mit geringen Deutschkenntnissen zugewiesen worden. Mit 51 Kindern, die kaum ein Wort Deutsch sprechen, weist eine Grundschule im Kreis den höchsten Wert auf. Pontzen will nicht sagen, welche es ist. Die Kurve in dieser Kategorie kennt derzeit nur eine Richtung: steil bergauf. "Aufgrund der Öffnung der EU-Grenzen, gehe ich davon aus, dass mehr Kinder mit nur geringen Deutschkenntnissen zu uns kommen werden", sagt die Schulrätin.

Jens Willmeroth (45) ist seit acht Jahren Grundschulrektor. Jetzt leitet er die Gemeinschaftsgrundschule "An den Linden", die aus der Fusion der Luther- und ehemaligen Christus-König-Schule hervorging. Er ist froh, dass seiner Schule Stundenanteile für Integrationsmaßnahmen zugewiesen wurden. In der überschaubaren Stundenzahl kümmern Pädagogen sich intensiv um die 28 Kinder, bei denen kaum Deutschkenntnisse vorhanden sind.

Zählt Schulleiter Willmerorth die Staaten auf, aus denen einige seiner Schüler kommen, so wird hier in einer überschaubaren Grundschule ein Stück kulturelle Vielfalt gelebt. Aus Sri Lanka, Ungarn, Nigeria, China, Polen, Italien und Spanien kommen Kinder. Und — als wenn dies nicht ausreichende Aufgaben wären — besuchen zudem noch einige syrische Flüchtlinge, die vom Krieg geprägt sind, die Schule "An den Linden" Willmeroth erklärt, wie er unter anderem dem Sprachproblem begegnet: "Wir haben eine Stunde Null eingeführt." Das bedeutet, dass die Deutschkenntnisse dieser Kinder mit einer Unterrichtsstunde vor dem Start des regulären Schulbetriebs verbessert werden sollen. "Dennoch reichen die derzeit ergriffenen Maßnahmen kaum aus, wenn die Situation sich so weiterentwickelt wie zuletzt", sagt der Schulleiter. Wichtig ist für ihn der Ausbau des Offenen Ganztags. "Die Kinder aus anderen Nationen bewegen sich nach dem Unterricht, hauptsächlich in ihrem sozialen Umfeld und unterhalten sich dort dementsprechend in ihrer Muttersprache", sagt Willmeroth, der fordert, dass es für dieses Problem mehr Fortbildungsangebote für Lehrer geben müsse.

Die Problematik, Unterricht mit immer mehr Kindern ohne deutsche Sprachkenntnisse zu gestalten, sieht Birgit Pontzen als eine interessante Herausforderung an: "Dann kommen wir zur Kunst des Unterrichtens im Rahmen der Inklusion. Wir haben nicht nur Migranten, wir haben durchschnittliche und hochbegabte Schüler sowie Kinder des gemeinsamen Lernens." Die Schulrätin stellt heraus, dass alle Kinder da abgeholt werden sollen, wo sie stehen und fordert: "Man muss alle modernen pädagogischen Mittel nutzen. Da sind auch die einzelnen Lehrkräfte gefragt, sich weiterzubilden, etwa im Hinblick auf die Vorbereitung des Unterrichts im Team und Nutzung kooperativer Lernformen. Die Inklusion stellt an die Unterrichtsführung einen hohen Anspruch." Doch nicht selten prallen auch hierzulande in den Schulen Anspruch und Wirklichkeit knallhart aufeinander.

*Name von der Redaktion geändert

(RP)
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