Wohnungslose Minderjährige in Köln "Das Smartphone ist die letzte Chance, einen Schlafplatz zu finden"

Köln · 29.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland haben kein festes Zuhause. Immer mehr von ihnen wechseln alle paar Nächte die Couch. Ein Streetworker aus Köln erklärt, wieso so viele junge Menschen heimatlos sind.

 Jugendlicher auf der Straße (Symbolbild).

Jugendlicher auf der Straße (Symbolbild).

Foto: Roman Bodnarchuk/ Shutterstock.com

Herr Emde, leben die Kinder, die Sie betreuen, tatsächlich auf der Straße?

Colin Emde Wir betreuen drei Gruppen: Die kleinste ist die, die wirklich obdachlos lebt. Dann gibt es jene, denen die Obdachlosigkeit droht, weil zum Beispiel klar ist, dass sie bald von Zuhause rausfliegen oder nicht mehr im Heim bleiben können. Die dritte Gruppe sind die sogenannten Sofa-Hoppers. Das sind die verdeckten Obdachlosen, die von Sofa zu Sofa wandern. Diese Gruppe wird in den letzten Jahren immer größer.

Das klingt, als sei das für viele ein Dauerzustand, aber auf der Couch von Bekannten kann man doch sicher nur ein paar Nächte bleiben.

Emde Deswegen haben diese Kids eine ganz eigene Organisationsform gefunden. Über ihre Smartphones nehmen sie jeden Tag mit ihren Freunden und anderen Wohnungslosen Kontakt auf und prüfen, wo sie unterkommen können. Mal ist das die Couch eines Freundes, dann hören sie von einem besetzten Haus und schlagen dort ihr Lager auf. Wenn das nicht mehr geht, hören sie von einem Bekannten, dessen Freundin ein paar Nächte nicht da ist, und bleiben so lange dort. So schlagen sie sich durch und leben dabei immer aus dem Rucksack.

Wie finanzieren sie sich das Handy?

Emde Zum einen haben viele einen Prepaid-Vertrag. Zum anderen kenne ich viele, die sich das Handy buchstäblich vom Munde absparen oder sich deswegen vollständig überschulden. Das Smartphone ist das einzig verbleibende Statussymbol für sie, und die letzte Chance, über Facebook und andere Webseiten einen Schlafplatz zu finden. Deswegen kaufen sich viele das teuerste Model gleich noch mit Flatrate und sind dann blitzschnell mit mehreren tausend Euro bei einem Mobilfunkanbieter verschuldet.

 Colin Emden ist Streetworker und Leiter der Hilfsorganisation "Off Road Kids", der einzigen bundesweit agierenden Anlaufstelle für Straßenkinder.

Colin Emden ist Streetworker und Leiter der Hilfsorganisation "Off Road Kids", der einzigen bundesweit agierenden Anlaufstelle für Straßenkinder.

Foto: Markus Seidel / Off Road Kids St

Wie kommen die Kinder und jungen Erwachsenen überhaupt in diese Situation?

Emde Die meisten, die zu uns kommen sind um die 18 Jahre alt. Der Grund dafür ist, dass sich an diesem Punkt alles ändert. Unter 18 ist das Jugendamt ohne jede Frage zuständig. Danach aber müssen sie selbständig dafür sorgen, dass sie vom Amt Geld bekommen, eine Wohnung haben oder dass es mit einer Ausbildung klappt. Viele kriegen das aber nicht hin. Entweder weil sie nicht gelernt haben, wie man mit den Behörden umgehen muss und wie man Formulare ausfüllt, oder weil sie permanent zwischen Jugendamt und Jobcenter hin und her geschickt werden. Viele geben dann auf und sagen, sie schlafen lieber bei einem Kumpel und schnorren sich ihr Tagesgeld zusammen.

Wegen Familienkonflikten gibt es keine Probleme?

Emde Doch. Das Problem ist, dass das Jobcenter bei 18- bis 25-Jährigen verlangt, dass familiäre Konflikte nachgewiesen werden, bevor ihnen eine Wohnung finanziert wird. Wenn aber noch keine Auffälligkeiten bei Jugendamt oder Polizei gemeldet wurden, muss die Familie selbst bestätigen, dass es häusliche Probleme gibt. Das machen die Eltern aber so gut wie nie. Man muss also sehr genau wissen, wann welche Behörde zuständig ist. Das können auch junge Erwachsene nicht leisten, schon gar nicht, wenn sie aus einer schwierigen familiären Situation kommen.

Sie kümmern sich also nicht nur um Minderjährige?

Emde Die Betreuung beginnt im Alter von 14 und geht bis zum 27. Lebensjahr.

Aber ein 27-Jähriger ist doch kein Kind mehr. Der ist erwachsen.

Emde Deswegen ist der Begriff Straßenkinder auch fehlleitend. Es wird deutlicher, wenn man sich klar macht, wie die Jugendhilfe strukturiert ist: Bis zum 18. Lebensjahr muss das Jugendamt aktiv werden. Zwischen 18 und 21 ist es eine Soll-Leistung. Sie sollte also dann erbracht werden, wenn der Betroffene nicht alleine in der Lage ist, sein Leben zu organisieren. Zwischen dem 21. und 27. Lebensjahr gilt die Hilfe als Kann-Leistung. Sie kann also dann erbracht werden, wenn ein Sonderfall auftritt.

Und von den jungen Erwachsenen gibt es so viele?

Emde Wer schon als Kind nicht gelernt hat, seinen Tag zu organisieren und auf ein Ziel hinzuarbeiten, der hat auch später Probleme damit. Außerdem verurteilen die Sanktionierungsmethoden des Jobcenters viele zu einem Leben als Obdachlose.

Warum?

Emde Wenn unter 25-Jährige sich nicht wie vorgegeben beim Arbeitsamt melden, Vorstellungsgespräche vereinbaren und ihre Formulare abgeben, werden sie sanktioniert. Mit dem dritten Versäumnis kann das auch die Miete betreffen. Sie wird gekürzt oder gestrichen. Besonders junge Erwachsene, die aus der Jugendhilfe kommen geraten an diesem Punkt oft in Schwierigkeiten. Für viele ist das der Startschuss in die Obdachlosigkeit.

Wie helfen Sie diesen Menschen?

Emde Wir füllen mit ihnen Formulare aus, klären die Zuständigkeiten der Ämter ab, gehen dann mit ihnen auf Termine, helfen dabei, eine Wohnung zu finden, und prüfen, welche Hilfe ein Jugendlicher darüber hinaus noch braucht. Außerdem geht es in unserer Arbeit viel um Motivation. Wer so jung in so einer schwierigen Situation landet, hat quasi kein Selbstvertrauen.

Und wie vielen können Sie damit wirklich helfen?

Emde Das ist schwer zu sagen, schon alleine, weil jede Hilfe anders aussieht. Bei einem Heroinabhängigen sind wir erfolgreich, wenn er die kommenden Jahre überlebt. Bei einem Minderjährigen geht es darum, dass er durch das Jugendamt wieder ein Dach über dem Kopf bekommt. Immer mehr leiden auch an psychischen Problemen.

Warum ist das so?

Emde Sie müssen sich den Druck einmal vorstellen: Die Jugendlichen haben oft nur einen Hauptschulabschluss oder sogar die Sonderschule nach der 6. Klasse verlassen. Sie haben kein Zuhause und stehen ganz unten auf der Leiter. Damit ist ihre Karriere von Anfang vollkommen verbaut. Die Kids wissen das. Wenn dann noch Drogenkonsum dazu kommt, ist das eine Mischung, die leicht zu psychischen Problemen führt.

Was heißt das für den Erfolg Ihrer Arbeit?

Emde "Off Road Kids" gibt es seit elf Jahren. In dieser Zeit haben wir mehr als 800 Klienten von der Straße in eine selbstständige Lebenssituation gebracht. Das klappt aber nicht immer. Es gibt Jugendliche, die größere Probleme haben. Ihnen muss man vor allem zeigen, dass jemand an sie glaubt. Ihnen also zu vermitteln, dass sie auch auf dem zweiten Bildungsweg oder durch eine Ausbildung zu etwas werden können, auch, wenn sie selbst nicht daran glauben.

Auf der Webseite Sofahopper.de finden betroffene Kinder und junge Erwachsene Hilfe per Chat-Gespräch durch die Streetworker von "Off Road Kids". Colin Emde ist Leiter dieser Organisation.

(ham)
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