Kampagne "Crash Kurs NRW" Nur eine Zehntelsekunde

Köln · Mit drastischen Bildern und emotionalen Schicksalen will die Polizei jungen Menschen beim Projekt "Crash Kurs" zeigen, welche Folgen Unfälle haben können - weil Fahranfänger überproportional viele dieser Unfälle verursachen.

 Grablichter und Blumen im Kölner Auenweg.

Grablichter und Blumen im Kölner Auenweg.

Foto: dpa, hka axs fg

Zweieinhalb Jahre ist es her, dass die Kölner Studentin Miriam Scheidel ums Leben kam. Die 19-Jährige war am 14. April 2015 mit ihrem Rad auf dem Weg nach Hause, als ein 22 Jahre alter Autofahrer im Auenweg in Köln-Deutz die Kontrolle über seinen schwarzen BMW verlor. Er hatte sich ein Rennen mit seinem 21-jährigen Kumpel geliefert. Der BMW schleuderte meterweit über die Gegenfahrbahn und erfasste das Mädchen auf dem Radweg. Miriam Scheidel starb drei Tage nach dem Unfall.

Die Mutter erzählt die Geschichte ihrer Tochter nun anderen jungen Menschen. Marita Scheidel geht mit der Kölner Polizei in Schulen und zeigt Jugendlichen der 11. Jahrgangsstufe und Berufsschülern Fotos ihrer Tochter. Sie erzählt den Schülern, wie es sich anfühlt, seinem eigenen Kind drei Tage lang beim Sterben zuzusehen und wie es ist, wenn "der Verstand nicht mehr hinterherkommen kann", wie sie sagt, und auf einmal ein Leben führen zu müssen, das man nie haben wollte. Ein Leben mit Besuchen am Grab des eigenen Kindes.

Jedes Jahr 550.000 Unfälle in NRW

"Crash Kurs" heißt das Präventionsprogramm, mit dem die Polizei Unfälle verhindern und Fahranfänger sensibilisieren will. Am Dienstagmorgen kommen im Nikolaus-August-Berufskolleg in Köln-Deutz 500 Schüler verschiedener Schulen in der Aula zusammen. Ihnen soll vermittelt werden, dass Unfälle nicht einfach so passieren, sondern verursacht werden. In Nordrhein-Westfalen gibt es jedes Jahr etwa 550.000 Verkehrsunfälle. Mehr als 600 Menschen werden dabei jährlich getötet. Junge Fahrer zwischen 18 und 24 Jahren verursachen überproportional viele der schweren Unfälle — fast 100 junge Menschen sterben jedes Jahr auf NRWs Straßen.

Anfangs ist es unruhig in der Aula, es wird gekichert und geschwatzt. Doch es gibt wohl niemanden im Saal, den die Bilder und die Geschichten an diesem Vormittag kalt lassen. Als Marita Scheidel von Miriams Unfall erzählt, ist es absolut still.

Da ist aber auch Sven Görres, ein 29 Jahre alter Feuerwehrmann. Er erzählt von einem Einsatz mit dem Alarmierungsstichwort "Person klemmt". "In 90 Prozent der Fälle bedeutet das, dass wir mit der Brechstange die Autotür für die Rettungskräfte aufmachen", sagt er. Doch es gebe noch die anderen zehn Prozent, in denen alles sehr viel schwieriger sei. Als er an jenem Tag zum Unfallort in einem Waldstück kam, standen zwei junge Frauen und zwei Jungs um ein vollständig demoliertes Auto herum — alle leicht verletzt. Das Auto war buchstäblich um einen Baum gewickelt. Hinter Görres ist ein Foto des Unfalls auf eine Leinwand projiziert. "Die vier klebten wie Magnete an dem Auto — und uns wurde klar: der Fahrer ist noch drin." Während die vier Mitfahrer sehr großes Glück hatten, war ihr Freund derart eingeklemmt, dass ein Notarzt einen Chirurgen anforderte, um ihm beide Unterschenkel abnehmen zu lassen. "Der Junge saß da im Auto, mit der Fußballjacke seines Vereins", sagt Görres. Letztlich schafften die Feuerwehrmänner es zwar, ihn doch noch irgendwie aus dem Wrack zu zerren und so eine Amputation zu verhindern, doch auch sechs Jahre nach dem Unfall kann der junge Mann noch nicht wieder richtig gehen. Fußballspielen wird er wohl nie wieder können.

Eine falsche Entscheidung, verheerende Folgen

 Thomas und Marita Scheidel haben ihre Tochter durch einen Raserunfall verloren.

Thomas und Marita Scheidel haben ihre Tochter durch einen Raserunfall verloren.

Foto: Claudia Hauser

Die Geschichten und Unfallbilder, die die Schüler zu hören und zu sehen bekommen, sind drastisch. Doch sie zeigen die Realität und fangen da erst an, wo die anonym gehaltenen Unfallmeldungen in den Medien enden. Rettungssanitäter, Polizisten und Seelsorger sprechen über ihre Einsätze, ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit der klaren Botschaft: "Es braucht nur eine Zehntelsekunde, um eine falsche Entscheidung zu treffen — übernehmt Verantwortung und denkt nach!" Nachdenken, zu wem man ins Auto steigt, wie schnell man fährt, ob man trinkt oder Drogen nimmt, ob man dem betrunkenen Kumpel nicht besser den Autoschlüssel abnimmt. Theoretisch weiß das jeder im Saal. Doch die Protagonisten von "Crash Kurs" erzählen von konkreten Schicksalen. Vom Vater, der zu seiner schwerstverletzten Zehnjährigen will, und von drei Sanitätern mit aller Kraft davon abgehalten werden muss, weil das Mädchen noch am Unfallort notoperiert werden muss. Und von Menschen, die zwar überlebt haben, das Leben aber nicht mehr aushalten. So wie ein 19-Jähriger, der nach einem Unfall nicht mehr kontrollieren kann, wann er auf die Toilette muss, und aus Scham aus dem vierten Stock eines Krankenhauses gesprungen ist.

Marita Scheidel, die Mutter der getöteten Radfahrerin, fällt es immer noch schwer, über alles zu sprechen. Sie liest deshalb von einem Blatt ab, was sie sagen möchte. Wer ihr zuhört, bekommt eine Ahnung davon, wie es ist, wenn das Leben wegbricht. "Die Kinder von anderen werden älter, wechseln Schulen, machen Examen", sagt sie. "Mein Mann und ich können nur über die Vergangenheit sprechen." Miriam ging "an diesem verfluchten Dienstag" aus dem Haus und kam nie wieder. "Für alle aus unserer Umgebung ist die Normalität zurückgekommen. Aber unsere Normalität ist weg und wir haben noch keine neue gefunden."

Viele im Saal weinen, als Marita Scheidel am Ende Fotos ihrer Tochter zeigt. Sie wissen jetzt, wer das Mädchen war, das im Frühjahr 2015 bei einem illegalen Rennen in Köln ums Leben kam.

Die Kampagne "Crash Kurs" erreicht seit 2009 jedes Jahr mehr als 8000 Schüler in Köln und Leverkusen, landesweit sind es etwa 15.000 jährlich. Ob sie tatsächlich dazu beiträgt, Unfälle zu verhindern, soll eine Studie der Universitäten Köln und Zürich zeigen.

(hsr)
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