Gastbeitrag von Renan Demirkan Meine Silvesternacht in Köln

Köln · Die türkischstämmige Schauspielerin und Autorin Renan Demirkan erlebte die Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht hautnah mit.

 Renan Demirkan verbrachte die Silvesternacht in Köln.

Renan Demirkan verbrachte die Silvesternacht in Köln.

Foto: dpa

Ich liebe den Jahreswechsel. Mehr noch - er ist mir heilig. Und meist verbringe ich diesen Tag wie in einem Paralleluniversum, abwesend und in Gedanken, wie in einem langen Gebet. Nehme meine Umgebung anders wahr als an anderen Tagen, bin zugewandter und weniger misstrauisch. Warum das so ist, weiß ich nicht. Aber ich habe das Gefühl, am letzten Tag des Jahres weht eine heilige Melancholie durch die Luft. Vielleicht war ich deshalb nicht gleich aufgeschreckt über die Ereignisse, die mir in der Silvesternacht begegneten.

Ich freute mich auf einen wunderbaren Multikultiabend im Kölner Gloria mit dem Funkhaus Europa. Meine Tochter hatte mich eingeladen. Und da das Wetter mir zu instabil erschien, bin ich an diesem Abend mit dem Zug gefahren. Eine sehr seltene Ausnahme, weil ich abends nicht durch Bahnhöfe gehen mag. Aber wie gesagt, an diesem Tag schien mir das machbar, weil es mein heiliger Tag war, an dem deshalb auch nichts Schlimmes passieren kann.

Also fuhr ich gegen 20.30 Uhr mit der S-Bahn zum Kölner Bahnhof. Ich stieg in den vorderen Teil des ersten, fast leeren Wagens ein. Zwei Zugbegleiter machten ihre Runde, und an der nächsten Haltestelle stieg ein ganz bezauberndes gemischtes Paar ein, sie Orientalin, er Afrikaner. Offensichtlich kannten sich die vier und fingen ein Gespräch an.

Kurze Zeit darauf lief eine junge Frau, die mit mir eingestiegen war, zu uns vor und beschwerte sich über zwei Männer, die sie bedrängen und belästigen würden. Die beiden Zugbegleiter klärten die Situation und behielten die jungen Männer noch ein paar Stationen im Auge, bis sie aussteigen mussten.

Obwohl ich seit Jahren in verschiedenen Organisationen "Gewalt gegen Frauen" engagiert bin, habe ich mich nicht einmal umgedreht, um mir die Jungs anzusehen, dachte, es wird schon gut werden. Auch das Gewühle im Bahnhof machte mir nichts aus, obwohl mir eine undefinierbare Atmosphäre aufgefallen war, aber mehr so aus dem Augenwinkel heraus. Und es erinnerte mich das erste Mal nach Jahrzehnten an unsere ersten Jahre in Deutschland, als sich die "Gastarbeiter" in den Bahnhöfen trafen.

Gegen 22.00 Uhr war ich dann endlich in der wirklich großartigen Party und tanzte mit mindestens 20 verschiedenen Nationen zum Sound eines südafrikanischen DJ's bis zum Countdown ins neue Jahr. Eine halbe Stunde später machte ich mich schon auf den Weg zurück nach Hause, schlenderte quer durch die Innenstadt mit Hunderten von feiernden Menschen, die noch durch die Clubs zogen. Ich mag diesen Geruch der ersten Minuten des neuen Jahres, wenn der Böllerdampf noch zwischen den Häusern hängt. Alle hatten ein Grinsen im Gesicht - ich auch. Das mir aber schlagartig verging, als ich die Domplatte erreichte. Wieder fiel mir eine undefinierbare Atmosphäre auf, diesmal eine Mischung aus angetrunkener Ausgelassenheit, sexualisierten Pöbeleien, einer sprunghaften Bewegtheit - und etwas, was mir selbst so noch nie vorgekommen ist: Ich spürte plötzlich eine Fremdheit. Ich antwortete zwar freundlich auf die guten Neujahrswünsche, die mir hier und da etwas süffisant aufgedrängt wurden, zog aber meine Mütze tiefer ins Gesicht und ging zügig bis zu den Treppen zum Bahnhofsvorplatz durch.

Was ich da von oben aus sehen konnte, erinnerte mich an eine Filmszene in einem Vorstadtghetto, in die gerade Kunstnebel hineingepumpt wurde: Menschen liefen zwischen Rauchschwaden herum, links, wo sonst die Taxen vorfahren, standen ein Krankenwagen und ein Mannschaftswagen mit Blaulicht, weiter hinten, an der zweiten Bahnhofstür, warteten noch weitere Polizeiautos. Überall dazwischen kleinere Gruppen von Polizisten. Normalerweise frage ich immer, was denn los ist. Aber irgendetwas hielt mich an diesem Abend davon ab.

Die Treppenstufen waren voll mit jungen Männern, zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt, die noch ein paar kleine Knaller anzündeten und in die vor ihnen sitzende Menge fallen ließen. Unten angekommen, fiel mir eine seltsam ungleiche Gruppe aus drei, vier Polizisten und sechs, sieben jungen Männern auf. Mir schien, als würden die Jungs die Polizisten veralbern, sie schubsten sie sogar zurück, aber die Uniformierten schienen das ignorieren zu wollen. Das sollten sie nicht tun, dachte ich kurz, sagte aber wieder nichts, ging weiter zum vorderen Eingang und drehte mich nochmals kurz zum Vorplatz um. Wieder war da etwas ganz Fremdes, etwas Quecksilbriges, etwas, das toxisch wirkte und nicht greifbar schien.

Am nächsten Mittag erzählte ich davon einem Kölner Freund, der seit langem in Berlin lebt. Ich sagte ihm, dass ich gestern ein Deutschland gesehen habe, das ich mit nichts vergleichen kann, was ich je erlebt habe: weder mit den sehr aggressiven "Rote Punkt"-Demos in den Siebzigern in Hannover, noch bei den Demos gegen die Stationierung der Pershing-Raketen im Bonner Hofgarten, noch bei gewerkschaftlichen Protesten der Neunziger in der ganzen Republik. Es war anders als die grölenden Massenaufläufe der Fußballfans oder der kostümierten Karnevalisten. Ich würde zu gern wissen, was das war, sagte ich zu meinem Freund.

Aber als ich zwei Tage später die Nachrichten hörte, synchronisierten sich die Bild- und Tonspuren. Dabei fielen mir mehrere Phänomene auf:

Verletzte Menschen verletzen andere! Wir müssen uns viel klarer darüber sein, dass Flüchtlinge eine psychosoziale Begleitung brauchen, Kriegsflüchtlinge im Besonderen.

Sexualisierte Gewalt von Männern ist ein Männerproblem, unabhängig von Herkunft und Religion, und darf nicht als rassistisches Argument instrumentalisiert werden. Es ist ein Macht- und Gewaltinstrument des weltweiten Patriarchats, unter dem die Frauen international leiden. Wie die in den Frauenhäusern unserer Republik.

Sexismus ist kein Kavaliersdelikt, sondern Nötigung. Und Gewalt gegen Frauen ist ein Verbrechen. Das erste Gebot der sogenannten Integration muss die Aufklärung sein. Wobei auch eine aufgeklärte Gesellschaft nicht frei ist von kriminellen Rassisten, wie der Pegida und anderen xenophoben Idioten.

Denn Idioten sind Idioten, nicht weil sie Syrer oder Rumänen sind, sondern weil sie Idioten sind. Und im schlimmsten Fall auch Verbrecher, wie die, die in der Silvesternacht Hunderte von Frauen betatscht, vergewaltigt und ausgeraubt haben. Und die gehören gefasst und bestraft. Punkt.

Ich hoffe und wünsche uns allen, der Mehrheitsgesellschaft und denen, die zugewandert sind, dass wir die anstehenden Aufgaben auch weiterhin mit Empathie und Respekt bewältigen können. Deutschland ist anders geworden, vielschichtiger und komplexer, und wird sich auch täglich weiter verändern. Aber es liegt in unseren Händen, wie es schließlich aussehen wird.

Ich wünsche uns allen eine gute Zeit!

(RP)
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