Sexuelle Gewalt Brandbeschleuniger Alkohol

Düsseldorf · Nach der beschämenden Silvesternacht von Köln werden viele Missstände breit debattiert. Ein Tabuthema aber bleibt: die Rolle des Alkohols als Katalysator für Sexismus und Gewalt.

Sexuelle Gewalt: Brandbeschleuniger Alkohol
Foto: Dana Kublin

Jede Gesellschaft hat ihre Tabuthemen; von außen schmerzhaft klar erkennbare Probleme, die im Land selbst hartnäckig bis aggressiv verleugnet werden: blinde Flecken, tote Winkel in der Selbstbetrachtung. Der Waffenwahn in Teilen der USA drängt sich als Beispiel auf, ebenso der Nationalismus, der in Russland, der Türkei und zuletzt auch in Polen rechtsstaatliche Prinzipien wie Gewaltenteilung und Pressefreiheit aushöhlt. In Deutschland ist es ein Nicht-Erkennen-Wollen, was alle möglichen hiesigen Gewaltexzesse verbindet, von Vandalismus über wüste Schlägereien bis hin zu Vergewaltigungen, sämtlich auf schlimmste Weise zu besichtigen an Karneval: Die Täter sind oft enthemmt durch Alkohol.

In großen Teilen der muslimischen Welt ist Alkoholkonsum verpönt oder sogar offiziell verboten. Dort herrscht allerdings ein Frauenbild, das mit der Gleichberechtigung der Geschlechter unvereinbar ist. Diese endet dort nicht wie in der westlichen Welt "erst" beim Zutritt zu Vorstandsetagen, der Höhe von Gehältern und sexistischer Werbung, sondern schon bei grundsätzlichen Fragen der — insbesondere sexuellen — Selbstbestimmung. Was Mädchen und Frauen tun, wo sie sich wann bewegen, wen sie wie anschauen und berühren dürfen und wen sie heiraten müssen, bestimmen häufig Männer, die ihr Recht dazu aus ihrer Interpretation des Koran ableiten, etwa der Sure 4:34 (naheliegende Übersetzung: "Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie von Natur aus vor diesen ausgezeichnet hat..."). Dass derartiges Denken nicht mit der im Grundgesetz gesicherten Gleichberechtigung zu vereinbaren ist, wird in diesen Gesellschaften kaum problematisiert. In der deutschen muss das umso dringender passieren, weil das Grundgesetz selbstverständlich ohne jede Relativierung für jeden in Deutschland Lebenden gilt — also auch für jeden, der aus einem solchen Kulturraum in dieses Land gekommen ist, derzeit kommt oder noch kommen wird.

Dieses Thema war vor der Silvesternacht von Köln teilweise mit spitzen Fingern angefasst worden, ebenso wie Ausländerkriminalität im Allgemeinen und sexuelle Gewalt durch Migranten im Speziellen. Das geschah aus zwei sehr guten Gründen: Erstens ist da die Verantwortung zur Prävention von Vorurteilen, die extrem leicht und schnell in Volksverhetzung eskalieren können. Unter Anerkennung dieser Gefahr haben sich beispielsweise die Medien freiwillig zur Beachtung des Pressekodex verpflichtet, in dem es unter Ziffer 12 heißt: "In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte."

Zweitens hatte es bis Silvester schlicht an Anlässen für seriöse Berichterstattung in großem Stil gemangelt: Insbesondere "Kriminalität von Flüchtlingen" meinte bislang vor allem Schlägereien in Heimen (mitverursacht durch die Umstände dort: extreme Enge, Unsicherheit über die eigene Zukunft, lähmende Langeweile durch behördliche Arbeitsverbote). Die zahllosen bei Facebook kursierenden Meldungen über Vergewaltigungen durch Flüchtlinge stellten sich meist als bewusst und gezielt von Rechtsextremisten lancierte Fälschungen heraus; menschenverachtende Propaganda in eigener Sache, ein perfides Spiel mit Urängsten durch Taten, die es niemals gab, von denen aber dennoch etwas hängenblieb.

Jedenfalls: Nach den organisierten oder zumindest koordinierten Taten von Köln werden diese Debatten im Feld zwischen Politik und Religion, Kultur und Justiz in allen Medien mit aller Breite und Wucht geführt. Auslöser dafür war das laut Aussagen von Opfern, Augenzeugen und Polizisten "nordafrikanische oder arabische Aussehen" der Täter. Das Zweite (und einzige Weitere), was schnell über diese Täter feststand: Ein Großteil wenn nicht von ihnen, dann doch zumindest der vielzitierten Menge, aus der sie auf- und in die sie vor der Polizei wieder abtauchten, war durch exzessiven Alkoholkonsum enthemmt. Dieser Punkt wird nach wie vor nicht thematisiert.

Nach den Regeln der Aufmerksamkeit für die Öffentlichkeit im Allgemeinen sowie Medienmacher im Speziellen ist das nur logisch. Uns interessiert das Besondere, die Ausnahme: Das eine Flugzeug, das abstürzt — nicht die Zehntausenden, die sicher ankommen. Wenn sich herausstellt, dass aufdringliche Kneipengäste, Pöbler, Schläger, Messerstecher wie auch Vergewaltiger alkoholisiert sind, überrascht das niemanden; es ist geradezu üblich. Insbesondere sexuelle Gewalt wird nicht von "dem" typischen Täter ausgeübt: Die Verbrecher sind dem Opfer bekannt oder unbekannt, sie agieren in der Öffentlichkeit oder im Privaten, sind jung oder alt, dick oder dünn, verstehen sich als Christen, Muslime oder Atheisten. Die vielleicht einzige, jedenfalls größte Gemeinsamkeit vieler Täter außer ihrem Geschlecht ist: Sie sind betrunken.

In Zahlen zu fassen ist dieser Zusammenhang kaum, weil etwa Grapschereien bislang praktisch straffrei bleiben und nur in Ausnahmefällen überhaupt Täter ermittelt werden, deren Alkoholisierung aktenkundig würde. Aber wer nüchtern darüber nachdenkt, wird zugeben müssen: Exzessiver Alkoholkonsum verbindet die sexuelle Gewalt aus der Silvesternacht von Köln mit jener im Karneval und auf der Kirmes, in Fußballstadien und auf Firmenweihnachtsfeiern sowie an ganz normalen Wochenenden in der Düsseldorfer Altstadt, auf Scheunenfeten und in Großraumdiscotheken. Das ist eine Nebeneinanderstellung von Fakten, keine Gleichsetzung oder Relativierung der Taten von Köln. Wer Letzteres behauptet, wendet eine Logik an, über die die Feminismus-Expertin Margarete Stokowski schreibt: "Es ist, als würde jemand rufen: 'Es brennt in der Küche!' und jemand antwortet: 'Im Wohnzimmer auch!', und dann sagt der Erste: 'Ach was, du willst also nicht die Feuerwehr rufen?'."

Zur ganzen Wahrheit über sexuelle Gewalt gehört: Auch wir leben "in einem Kulturraum, in dem man sich an bestimmte Dinge gewöhnt hat." Gemeint ist mit diesem Satz die Quasi-Allgegenwart von Alkohol inklusive Möglichkeit zu dessen "Missbrauch", sprich exzessivem Konsum. Gesagt hat ihn Marlene Mortler, CSU-Politikerin und Drogenbeauftragte der Bundes. Diesen Satz kann man als Bankrotterklärung verstehen — und er ist für die Frage, welche Lehren aus dem Silvesternacht von Köln zu ziehen sind, sehr relevant.

Sexuelle Gewalt könnte man definieren als das Ergebnis im Übermaß "geförderter Kommunikations- und Kontaktbereitschaft bei gleichzeitigem Abbau von Ängsten und Hemmungen und verminderter Wahrnehmung sowie Urteilskraft". Diese Worte allerdings stammen von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. — und beschreiben die Wirkung von Alkohol. Der Konsum von Bier, Wein und Schnaps schränkt die Selbstkontrolle ein; der Anstand macht Pause, die Triebe übernehmen — darunter Lust und teils auch Gewalt.

"Bier ist Deutschland", heißt es beim Deutschen Brauer-Verband, und das mag nicht ganz falsch sein. Wahr ist aber eben auch: Nach dem zweiten, dritten, vierten Bier lässt mancher Mann Sprüche los, die ihm nüchtern nie über die Lippen kämen. Nach dem fünften, sechsten, siebten wird mancher körperlich zudringlich; zielstrebig wandert die Hand in Richtung Oberschenkel, Hüfte, Po, Brust. Vom Oktoberfest 2011 hatten zwei Reporterinnen der "Süddeutschen Zeitung" berichtet: "Drei Umarmungen von wildfremden, besoffenen Männern, zwei Klapse auf den Hintern, ein hochgehobener Dirndlrock und ein absichtlich ins Dekolleté geschütteter Bierschwall sind die Bilanz von dreißig Metern. (…) Security und Polizei greifen nur ein, wenn einer ausrastet und etwa mit einem Maßkrug auf einen Kontrahenten einprügeln will. Der Griff an eine Pobacke als Grund? Da gäb es ja viel zu tun."

In der Tat wird der Großteil aller Fälle von sexueller Gewalt nie zur Anzeige gebracht — ausgegangen wird von einer Quote 95 Prozent. Weil sich die Opfer schämen oder diffus mitschuldig fühlen, Angst haben vor süffisanten oder verharmlosenden Reaktionen der Polizisten — oder weil es ihnen zwecklos vorkommt: 2012 etwa wurden nur rund acht Prozent der Tatverdächtigen auch verurteilt. Das liegt an der lange überfälligen Reform von Paragraph 177 des Strafrechts, der bislang heftigen körperlichen Widerstand gegen Vergewaltigungen einfordert, den viele Opfer aus Angst und Schock aber nicht leisten können oder wollen. Die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen sei "nicht voraussetzungslos geschützt", kritisieren daher Frauenrechtler, und: "Die deutsche Rechtsprechung wird den realen Situationen, in denen Übergriffe stattfinden, nicht gerecht." (Studie zu bestehenden "Schutzlücken", Artikel zum Thema).

Für die Gesamtgesellschaft gilt es zu begreifen und anzuprangern: Alkohol ist ein "stark begünstigender Faktor" für Akte sexueller Gewalt, doch gelten diese und andere soziale Folgen des Konsums — im Gegensatz zu gesundheitlichen — als "vergessene Dimension" der Forschung. Dabei ist der Zusammenhang zwischen übermäßigem Alkoholkonsum und sexueller Gewalt absolut offensichtlich; schon im Alten Rom hatte der Philosoph Epiktet gemahnt: "Der Weinstock trägt drei Trauben: Die erste bringt die Sinneslust, die zweite den Rausch, die dritte das Verbrechen."

Wem es tatsächlich um die Reduzierung sexueller Gewalt geht, der darf sich bei der Suche nach Ursachen nicht nur an kulturellen Unterschieden abarbeiten, sondern muss sich auch an die größte Heilige Kuh der Deutschen neben der tempolimitfreien Autobahn wagen, die übrigens auch eine ähnlich mächtige Lobby hat: den Alkohol.

Nach Köln kann es kein Vertun mehr geben, keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis: Selbst verliehene männliche Verfügungsgewalt über Frauen und ihre Sexualität ist eben nicht gottgegeben. Herkunft oder Religion entheben keinen Täter seiner Verantwortung und Schuld. Die Erkenntnis, der wir uns nun als nächstes stellen können, sollten, müssen: Mit dem Rausch durch die legalste gefährliche Droge Alkohol, verfügbar immer und überall, ist es ganz genauso.

(tojo)
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