Prozess um totes Baby am Flughafen Köln/Bonn "Sie müssen sich der Realität stellen"

Köln · Im Prozess um ein totes Baby am Köln-Bonner Flughafen ist das Urteil gefallen: Die 28-jährige Mutter des Jungen soll für vier Jahre ins Gefängnis.

 Die Kindsmutter mit ihren Verteidigern Karl-Christoph Bode und Funda Bicakoglu vor der Urteilsverkündung im Kölner Landgericht.

Die Kindsmutter mit ihren Verteidigern Karl-Christoph Bode und Funda Bicakoglu vor der Urteilsverkündung im Kölner Landgericht.

Foto: Hauser

An diesem letzten Prozesstag ist der Gerichtssaal noch einmal voll. Der Vater der Angeklagten ist gekommen, aber auch zwei ihrer Freundinnen. Eine hat ihr kleines Kind dabei, es krakeelt im Wagen, bevor Marie H. (Name geändert) von einer Justizbeamtin in den Saal geführt wird. Ihre Verteidigerin Funda Bicakoglu spricht kurz mit der Freundin, daraufhin gibt die das Baby ihrem Partner, der es mit nach draußen nimmt. Es ist die Freundin, die im vergangenen Jahr gleichzeitig mit der Angeklagten schwanger war. Aber Marie H. hatte ihr nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt.

Während der Vorsitzende Richter der 5. Großen Strafkammer das Urteil verkündet und die 28-Jährige wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, sitzt sie Schulter an Schulter mit ihrer Anwältin, später legt sie ihren Kopf auf die Schulter der Verteidigerin.

Es war ein Indizienprozess, Marie H. hat kein Geständnis abgelegt. Doch die Kammer ist davon überzeugt, dass die Studentin aus Siegen in der Nacht zum 20. November 2016 einen Jungen auf der Toilette des Flughafens Köln/Bonn zur Welt gebracht und ihn dann vorsätzlich getötet hat. "Eine Totgeburt ist ausgeschlossen", sagt der Vorsitzende. Marie H. hatte behauptet, das Kind nach der Sturzgeburt untersucht und keinen Herzschlag gespürt zu haben.

Doch die Kammer glaubte ihr nicht. "Das ist mit der ganzen Geheimniskrämerei nicht vereinbar", sagt der Vorsitzende. Die Kammer schließt auch aus, dass das Kind "durch Unterlassen" gestorben ist, also weil sie es möglicherweise schlicht nicht versorgt hat, es an Unterkühlung starb, denn "dafür ist der Zeitraum viel zu kurz, in dem es gelebt hat." Die Rechtsmedizinerin hatte festgestellt, dass der Junge voll entwickelt war und nach der Geburt geatmet hat. "Die Angeklagte wusste, dass das Kind lebendig ist, ihr kann der Herzschlag nicht entgangen sein", sagt der Richter.

Die Kammer hält zwei Motive für die Tötung des Kindes für möglich: Zum einen wollte die 28-Jährige das Kind nicht. Nach ihrer Festnahme hatte sie der Polizei gesagt, dass sie eine Abneigung verspürt habe, das Kind zu bekommen, sie habe dann aber die Möglichkeit in Betracht gezogen, es auszutragen und sich "damit abzufinden". Doch da sie sich in der Schwangerschaft zurückgezogen hatte, offenbar mit niemandem darüber gesprochen hat, auch nicht zu einem Arzt gegangen ist oder sich über Möglichkeiten einer Freigabe des Kindes zur Adoption informiert hat, steckte sie nach der Geburt auf dem Flughafen in einem Dilemma — und darin sieht die Kammer das zweite Motiv. Noch nicht mal ihr Freund soll gewusst haben, dass sie schwanger war. Wie hätte sie ihm erklären sollen, dass da doch ein Kind in ihrem gewölbten Bauch war, und nicht — wie sie ihm gesagt hatte — der Bauch anders aussah, weil es nach einer Abtreibung zu Komplikationen gekommen war? "Sie konnte unmöglich mit einem lebendigen Kind aus der Toilette kommen", sagt der Vorsitzende.

Der 26-jährige Freund hatte draußen vor der Toilette gewartet. Die Kammer geht davon aus, dass er zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nicht gewusst hat, dass seine Freundin gerade ein Kind auf die Welt bringt. "Hätte er es gewusst, hätte er sich anders verhalten". Überwachungskameras haben ihn gefilmt, wie er seelenruhig mehr als eine Stunde lang vor der Toilette wartet, irgendwann kurz reingeht, nachdem Marie H. ihn angerufen und gebeten hat, ihr eine Nagelschere und ein Handtuch zu bringen. Mit der Schere trennte sie die Nabelschnur durch, mit dem Handtuch soll sie das Kind erstickt haben.

Die Kammer wertet den Totschlag als minderschweren Fall, da sie davon überzeugt ist, dass Marie H. den Entschluss, ihr Kind zu töten, spontan gefasst hat. Sie sei in einem Ausnahmezustand gewesen, habe sich aus lauter Rücksichtnahme auf ihren Freund falsch verhalten. Marie H. wollte offenbar die Beziehung zu ihm nicht aufs Spiel setzen, hat das "Leben ihres Kindes deshalb von Anfang an negiert". Auch wenn die Kammer dem Staatsanwalt, der eine fünfjährige Freiheitsstrafe gefordert hatte, in dem Punkt folgt, dass die Tat nicht zum Wesen der Angeklagten passe, weil sie als sozial, kinderlieb und empathisch charakterisiert wurde, so stellt der Vorsitzende klar: "Das Phänomen der Kindstötung ist nicht auf einen bestimmten Täterkreis beschränkt". So seien viele Täterinnen vorher nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten — so auch Marie H., die keinerlei Vorstrafen hat.

Der Vorsitzende macht noch einmal deutlich, dass Marie H. als intelligente Frau viele Möglichkeiten gehabt hätte, anders zu handeln. Sie hatte gesagt, an "ihre Erinnerungen an den Abend nicht ranzukommen". Doch, so der Richter, sie müsse sich der Realität nun stellen.

Die Verteidiger kündigten an, in Revision zu gehen. Sie hatten einen Freispruch gefordert. Marie H. darf das Gefängnis unter Auflagen verlassen, bis das Urteil rechtskräftig ist und sie die Haftstrafe antreten muss. Sie muss sich bis dahin einmal pro Woche bei der Polizei melden und darf sich nicht mit ihrem Ex-Freund, dem Vater des toten Kindes, treffen.

(hsr)
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