Krefeld Die erste Fahrstunde auf dem Hochrad

Krefeld · Der Linner Radfahrer-Club besitzt mehrere Hochräder, die bei Umzügen in Biedermeier-Tracht bewegt werden. Der Verein bietet einen Hochrad-Führerschein an. Unser Autor hat eine Probefahrt auf dem 1,50 Meter hohen Rad gewagt.

 Philip Weimann ist versierter Hochradfahrer. Er und seine Familie engagieren sich im Linner Fahrrad-Club und in der Biedermeier-Gruppe des Vereins, die in prächtigen Kostümen bei Burg- und Trachtenfesten auftreten.

Philip Weimann ist versierter Hochradfahrer. Er und seine Familie engagieren sich im Linner Fahrrad-Club und in der Biedermeier-Gruppe des Vereins, die in prächtigen Kostümen bei Burg- und Trachtenfesten auftreten.

Foto: Thomas Lammertz

Harald Köhnen und Philip Weimann, meine Einweiser aus dem Radfahrer-Club Krefeld-Linn 1897 hatten mir alles genau erklärt: Du hebst einen Fuß auf den Aufsteigedorn, dann fährst du an wie beim Rollerfahren, schwingst dich schnell auf den Sitz und setzt die Füße zugleich vorne in die Pedale. Mit Hilfe des Lenkers bringst du dein Gewicht auf die Pedale, gleichst den Pedaldruck am Lenker aus und beginnst, ruhig zu treten.

Als aktiver Mountainbiker dachte ich mir noch: Das wird wohl noch zu schaffen sein. Doch als ich dann vor dem Hochrad stand, kam ich mir doch vor wie ein Reitschüler vor der ersten Reitstunde, dem das Pferd plötzlich sehr groß und unberechenbar vorkommt. Alle Augen waren auf mich gerichtet und so bezog ich hurtig meinen Platz auf dem Sattel und stellte fest: Ein Hochrad ist hoch, sehr hoch. Mit Druck trat ich in die Pedale, denn Hochräder haben keine Übersetzung. Das Rad kam in Fahrt. Da die Pedale beinahe mittig unter dem Sattel angebracht sind, hatte ich das Gefühl, dass das hintere, nur 22 Zoll = 56 Zentimeter Durchmesser zählende Stützrad abhob und ich vorne über den Lenker gehen würde. Vor Schreck vergaß ich, in die Pedalen zu treten, das Hochrad verlangsamte seine Fahrt, durch Lenken versuchte ich auszugleichen. Das Vorderrad ließ aber, eingekeilt zwischen meinen Beinen, keine Lenkausschläge zu. Ich überlegte noch, nach hinten unkontrolliert abzuspringen, dann waren meine beiden Einweiser rechts und links von mir zur Stelle und hielten das Rad im Gleichgewicht, so dass ich wohlbehalten aus meiner 60 Zoll = 1,50 Meter messenden Sitzhöhe den Erdboden wieder erreichte.

Hochräder haben keine Bremse, die Pedale drehen ständig mit. Man kann bei Gefällestrecken die Beine spreizen. Geübte werfen dann sogar die Beine über den Lenker, der deshalb eine Art Schnurrbartform hat. Wer beim Bergabfahren zu schnell wird, dem bleibt nur der Notabstieg: Füße weg von den Pedalen und freier Absprung. Enge Kurvenradien können auch nicht gefahren werden.

"Der Hochradfahrer muss vorausschauend fahren", erklärt Köhnen. In England und den USA war die Entwicklung der Hochräder in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts besonders vorangetrieben worden. "Boneshaker" (Knochenschüttler) nannten die Engländer ironisch das Hochrad, das mit einem Preis von rund 25 Pfund so viel kostete wie heute ein Kleinwagen und eher den Wohlhabenden vorbehalten war. Diese verbanden den Nervenkitzel des Hochradfahrens mit dem hohen Maß an Sozialprestige. Bis etwa 1900 prägten Hochräder das Straßenbild. Mit der Patentierung des Luftreifens im Jahre 1888 durch den schottischen Tierarzt John Boyd Dunlop ging die Ära der Hochräder dem Ende zu, weil ihr wesentlicher Vorteil, die bessere Abrollqualität, nun auch mit den ungefährlicheren Niederrädern zu erreichen war.

Der Linner Radfahrer-Club besitzt als ältester Krefelder Radsportverein mehrere historische Hochräder. Wagemutigen bietet er darauf eine Ausbildung an, die mit dem Hochrad-Führerschein endet.

Philip Weimann hat es in kurzer Zeit zum versierten Hochrad-Fahrer gebracht. Der sportliche junge Rechtsanwalt ist mit seiner Familie vor wenigen Jahren von Bonn nach Linn gezogen. "Für uns war die Mitgliedschaft in diesem Verein das Richtige. Die Verbindung von Sport, Geselligkeit und Heimatgefühl ließ uns schnell hier heimisch werden." Die ganze Familie engagiert sich daneben in der Biedermeier-Gruppe des Vereins, die ihre großen Auftritte in den prächtigen Biedermeier-Kostümen beim Burg-, Trachten- und Heimatfest, dem Flachsmarkt und dem Wochenende "Lebendige Geschichte auf Burg Linn" hat.

Vorsitzender Jürgen Heckel findet diese Verbindung schlüssig: "Mit der Draisine des Carl von Drais nahm die Entwicklung des heutigen Fahrrads in der Biedermeier-Zeit ihren Anfang. Dies geben wir mit unserer historischen Gruppe hier in Linn wieder."

(oes)
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