Krefeld Gedichte im Spiegel der Kunst

Krefeld · Der Lyriker Marcell Feldberg stellt auf der Buchmesse seinen Gedichtband vor. Es ist eine Schule des Sehens - stark beeinflusst von der Kunstsammlung in Pax Christi.

 Ueckers Nagelboot "Chichicastenango" in Pax Christi könnte ein Spiegel der aktuellen Flüchtlingsnot sein. Es ist aber 1980 entstanden.

Ueckers Nagelboot "Chichicastenango" in Pax Christi könnte ein Spiegel der aktuellen Flüchtlingsnot sein. Es ist aber 1980 entstanden.

Foto: T. Lammertz

Eines der berühmtesten Zitate der Weltliteratur hat Antoine de Saint-Exupéry mit seinem Kleinen Prinzen geschaffen: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Sehen des nicht Offensichtlichen aber ist nicht so einfach. Schon gar nicht für jene, die auf visuelle Schnellverwertbarkeit von Informationen geeicht sind. Denn der Mensch sieht nicht nur, was er vor Augen hat, sondern spiegelt auch das, was er zuvor abgespeichert hat - und das kann lange her sein. Mit den Bildern, die die Bilder beeinflussen beschäftigt sich Marcell Feldberg in seinem neuen Lyrikband "Im Widerschein der Wirklichkeit", den er in diesen Tagen auf der Frankfurter Buchmesse vorstellt.

Feldberg unternimmt keine wissenschaftliche Reise durch die Phänomene des Sehens, sondern zeigt in seinen Texten, wie sein eigenes Archiv der Bilder funktioniert - bei Kunst, bei Musik, aber auch in Alltagssituationen. "Wir sammeln unentwegt Eindrücke. Manche vergraben wir tief. Aber dann tauchen sie wieder auf, werden von neuen Wahrnehmungen abgerufen", sagt er. Etwa beim Betrachten von Kunst. "Da sehen wir nicht nur das Bild. Es spiegeln sich Referenzen, subjektive Eindrücke, persönliche Befindlichkeiten und frühere Bilder. Besonders bei moderner Kunst." Kunst richtig zu sehen, sagt Feldberg, hat er in der Kunstsammlung von Pax Christi gelernt, die der damalige Pfarrer und Kunstliebhaber Karl Josef Maßen zusammengetragen hat. Feldberg war viele Jahre Kirchenmusiker der Gemeinde. "Pfarrer Maßen hat mich darin bestärkt, mir ein eigenes Bild zu machen, nicht Interpretationen Anderer zu inhalieren, sondern sich einzulassen auf das, was man selber sieht und dabei empfindet." Zu den Werken, die Feldberg fasziniert haben, gehört "Ostern", ein Bild von Barbara Heinisch mit energischen Farben auf Nesselstoff, der in der Mitte durch einen klaffenden Riss den Blick auf die Wand dahinter freigibt. "Aufriss des Lebens - das ist mir spontan in den Kopf gekommen", sagt Feldberg. Und weil er leidenschaftlicher Sammler von Eindrücken ist, die er im roten Notizheft festhält, hat er gesucht und die Formulierung in einem ganz alten Eintrag gefunden. Nicht losgelassen hat iihn auch Ueckers Nagelboot "Chichicastenango", das viele Bilder in ihm wachruft - vom geflügelten Wort, dass "alle in einem Boot sitzen" über die aktuelle Situation der Flüchtlinge bis zum Fluss Styx, auf dem in der Mythologie die Menschen vom Leben ins Reich des Todes übersetzten. "Bei manchen Bildern habe ich auch Verbindungen mit Musik."

So persönlich individuell die Spiegelung des Gesehenen sei, der Kern der Wahrnehmung sei doch im Grunde bei allen gleich. Deshalb kann man in Feldbergs Band die Texte nur lesen, in ihre Bezüge eintauchen und sich an ihrer Sprache erfreuen oder man kann mit einem Notebook daneben versuchen, die Bilder aus Feldbergs Archiv aufzurufen und aus der Verbindung von Text und Bild Honig saugen. Von Fall zu Fall kann man an den Ort der Initialzündung gehen, etwa wenn es um die Kapelle Klein-Jerusalem in Neersen geht - vielmehr um den "Ort, an dem der Stern versunken ist". Im Boden der Unterkirche ist der als Sonne dargestellte Stern von Bethlehem zu finden. Nicht nur in Museen und Galerien oder auf Radtouren am Niederrhein findet Feldberg Motive für sein Archiv. Auch auf Reisen entdeckt er Bilder in den Museen neu - und deponiert sie, wie Sedimente, die langsam absinken, im roten Buch. Die Spiegelungen des Dichters widmen sich höchst unterschiedlichen Motiven. "Nackte Nächstenliebe" nennt Feldberg die Caritas, von Lucas Cranach d.Ä. 1536 gemalt: "eine schamlose Schönheit aus dem Tugendkatalog". Die Bilder und ihre Spiegelungen im Text sind eine doppelte Sehschule. Für seine Freundin, die Wiener Dichterin Friederike Mayröcker, verbindet er eine Mutter mit Kind morgens an der Bushaltestelle mit "Maria mit Kind und Buch", von Botticelli (1483 gemalt). Auf der Biennale in Venedig findet er "Johannes den Täufer" im Pavillon von Rudolf Stingel. Wer das Bild aufruft, versteht sofort den Text vom "kleinen Heiligenfenster, in die Teppichwand eingelassen." Alle Versatzstücke können in den Texten wiederum eine ganz andere Bedeutung erhalten, so dass man nicht alles wissen muss, woher was stammt, um den Sinn zu entschlüsseln.

(RP)
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