Krefeld Grandios getanzter Weltschmerz

Krefeld · Mit großem Applaus feierte das Publikum Robert Norths neuen Ballettabend. Er ist bewegendes Tanztheater und hochkarätiges Konzert.

 Der Tod (Abine Leao Ka) hat das Mädchen (Elisa Rossignoli) besiegt. Bei dieser Szene herrschte atemlose Stille im Zuschauerraum.

Der Tod (Abine Leao Ka) hat das Mädchen (Elisa Rossignoli) besiegt. Bei dieser Szene herrschte atemlose Stille im Zuschauerraum.

Foto: Matthias Stutte

Der Mann könnte auch eine Bahnhofsdurchsage zum Tanzereignis machen: Robert North hat seine hohe Musikalität vielfach bewiesen und wird dafür vom Publikum geliebt. Mit seiner jüngsten Produktion "Lachen und Weinen" hat er nicht nur Schubert geadelt, sondern auch gezeigt, dass Chopins kaum spielbare Virtuosität als Ballettmusik funktioniert. Die vorletzte Premiere auf der großen Bühne peitschte die Gefühle im Publikum hoch und endete in einem Sturm der Begeisterung: Viermal musste der Ballettdirektor auf die Bühne kommen, um sich zu verbeugen — auch die Akteure ließen die Zuschauer erst nach zig Vorhängen gehen.

Eigentlich war es ein Trick: Weil North erst vor neun Wochen mit seiner Compagnie den umjubelten Doppelabend "Verlorene Kinder/Bilder aus der Neuen Welt" mit großem Orchester auf die Krefelder Bühne gebracht hatte, wäre als zweite Neuproduktion die Variante mit Musik vom Band an der Reihe gewesen. Doch der Ballettchef zieht Livemusik der Konserve vor. Und weil er Schubert und die Romantik vertanzen wollte, reichte die kleine Besetzung von Klavier, Streichquartett der Niederrheinischen Sinfoniker und einem Sänger. Eine grandiose Idee: Der dreiteilige Abend ist tief bewegendes Tanztheater und hochkarätiges Konzert zugleich.

Die Romantik, jene Epoche des Weltschmerzes und sehnsuchtsvollen Sehnens ist ein Brutkasten der Empfindsamkeit. Lachen und Weinen sind nicht zwei Pole der der Gefühlswelt, sondern ihr Äquator —an dem alle Stimmungen ineinanderfließen. So erlebte das Publikum ein hoch emotionales Wechselbad. Herzstück der Trilogie ist "Der Tod und das Mädchen". Sieben Jahre nach seiner Vertonung des Matthias-Claudius-Gedichts hat Schubert dazu sein Streichquartett geschrieben. North hat aus seiner früheren Choreografie eine Neufassung kreiert, die sich auf den 2. Satz und das Ringen des Mädchens gegen den Tod konzentriert. Elisa Rossignoli verkörpert die Angst, das verzweifelte Sich-ans-Leben-Klammern des Mädchens packend und anrührend. Sie bäumt sich auf, wehrt ihn ab — und kann seinen Lockungen doch schwer widerstehen. Abine Leao Ka ist der verführerische Gevatter, der sie umfängt, freigibt und mit jeder Muskelfaser die Überlegenheit seiner Kraft spüren lässt. Als schwereloser Todesengel springt er ihr in den Weg. Die weichen Bewegungen des Pas de Deux verbinden Todessehnsucht und -kampf. Die Freundin (Victoria Hay) facht das Lebensfeuer mit leidenschaftlichem Einsatz an. Doch dem Tod wird das Mädchen sich am Ende hingeben. Ein Gänsehautmoment — auch dank der Streicher , die im Graben ein funkelndes Konzert spielen. Das Erlebnis eines musikalischen Ereignisses hat das Publikum von Beginn an. André Parfenov, musikalischer Allrounder des Theaters, ist ein atemberaubender Pianist, der Chopins Rhythmus-Launen dressiert und ein Feuerwerk entfacht, für das er Bravo-Rufe bekommt. Dazu geben Yasuko Mogi und Takashi Kondo in "Erinnerungen" feingliedrig Rückblicke auf ein langes Leben: Als gebeugtes altes Paar kommen sie auf die Bühne. Die vertrauten Bewegungen ihrer Jugend flackern verhalten auf. Doch mit den Mänteln streifen sie das Alter ab. Nun sind sie die Jungverliebten, die Überschwänglichen, später die Gereiften, die mit der Präzision eines Uhrwerks synchron oder versetzt tanzen und die Lust des Spitzentanzes, der zu Chopins Zeit in Mode kam, ausleben.

Mit der "Schubertiade" findet der Abend seinen Abschluss. North schickt einen Fremden (Alessandro Borghesani) auf die Reise, um sein Liebchen (Elisa Rossignoli) zu finden. Ein Doppelgänger (Raphael Peter) ergänzt die klassische Konstellation der Romantik. In wunderschönen Bildern begegnen und trennen sie sich. Dazu erklingen Lieder der "Winterreise" — von Rafael Bruck inbrünstig und vor allem in der Mittellage volltönig gesungen — im Wechsel mit Streichersätzen und weiteren Kunstliedern. Dabei zeigt das Ensemble sich von den besten Seiten. Selbst "Der Erlkönig" berührt im Innersten. Der Ritt auf Leben und Tod ist für Vater (Fabio Toraldo) und Sohn (Paolo Franco) ein Horrortrip, dessen Düsternis auch Bruck und Parfenov kongenial umsetzen. Wie sie Hoffen, Bangen und Fieberwahn in jede Bewegung einbetten, trifft bis ins Mark.

Andrew Storer und North haben die Bühnenbilder stark reduziert. Eine Parkbank und ein Taschentuch reichen für die Erinnerungen eines Lebens, viel Schwarz für den Todeskampf des Mädchens. Im Schlussteil geben blaue Nebellandschaften, ein mystisch-kahler Baum und später ein französisches Fenster als Anmutung eines Wiener Salons die Stimmung wieder, die bei den Hauskonzerten mit Gesang und Tanz — den sogenannten Schubertiaden — geherrscht haben mag.

(RP)
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