Krefeld Historien-Krimi um die Waldorfschule

Krefeld · Eigentlich wollte die Waldorfschule entlang der Tiergartenstraße acht neue Klassenzimmer bauen - das geht nun doch nicht, weil baurechtliche Vereinbarungen aus dem Jahr 1900 (!) Probleme bereiten könnten.

 Eines der Dokumente aus dem Grundbuch, in dem "Grunddienstbarkeiten" festgehalten sind - oben erkennbar die Zahl 1900.

Eines der Dokumente aus dem Grundbuch, in dem "Grunddienstbarkeiten" festgehalten sind - oben erkennbar die Zahl 1900.

Foto: Stadt Krefeld

Um in historischen Kategorien zu sprechen: Auf deutschem Boden sind vier Reiche untergegangen (Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazi-Reich, DDR), mehr als ein Jahrhundert zog ins Land - aber das deutsche Grundbuch birgt Einträge, die durch alle Zeitenstürme hinweg so viel Bestand haben, dass sie Bauherren von heute das Leben schwermachen. So erging es der Waldorfschule. Die Schule, die seit 1947 an der Ecke Tiergarten- und Kaiserstraße steht und erfolgreiche pädagogische Arbeit leistet, wollte anbauen - und musste die Tücken von Grunddienstbarkeiten im Grundbuch kennenlernen, die ins Jahr 1900 zurückreichen.

Der Reihe nach. Wir haben im Februar 2015 darüber berichtet, dass die Waldorfschule anbauen möchte - einen neuen Trakt mit bis zu 14 Klassenzimmern. Die Entwicklung war folgerichtig: Die Schule existiert dort seit 1947, sie hat einen guten Ruf, sie erfreut sich regen Zuspruchs - und so reifte das Vorhaben, auf dem eigenen Grundstück anzubauen. Es gab Gespräche mit Nachbarn, der Presse und der Verwaltung, das Vorhaben sollte sauber kommuniziert und die Nachbarn auf den Plan vorbereitet werden, erinnert sich Knut Habicht, Sprecher der Waldorfschule. Architekt Piet Reymann hatte einen Entwurf geliefert; die baurechtliche Abstimmung mit der Verwaltung war auf bestem Wege - "wir hatten bereits einen positiven Vorbescheid von der Stadt", berichtet Reymann -, da fiel auf irgendeiner Schulratssitzung das Wort "Grunddienstbarkeit". Die Bauherren waren alarmiert. Konnte es sein, dass es Einträge im Grundbuch gab, die dem Anbau einer Schule, die es seit sieben Jahrzehnten gab, entgegenstehen?

 Unterschriften von Eigentümern unter einer Vereinbarung; etwa in der Mitte ein berühmter Krefelder Name: Jean Kayser, Produzent des bekannten Kayser-Zinns.

Unterschriften von Eigentümern unter einer Vereinbarung; etwa in der Mitte ein berühmter Krefelder Name: Jean Kayser, Produzent des bekannten Kayser-Zinns.

Foto: Stadt Krefeld

Reymann begann zu recherchieren. Und er stieß auf Einträge ins Grundbuch, die ins Jahr 1900 zurückführen. Sie betrafen, berichtet er, das gesamte Areal zwischen Uerdinger Straße und Glockenspitz, Schönwasser- und Grenzstraße. Die Eigentümer von damals gehörten zu den Wohlhabenden der Stadt - Reymann stieß auf Namen wie Jentges oder Jean Kayser, der als Fabrikant von Kayser-Zinn Krefelder Kunsthandwerkgeschichte schrieb und dessen Werk an der Violstraße stand, etwa da, wo heute die Futtermeisterei des Zoos steht.

Diese Wohlhabenden zurrten seinerzeit durch besagte Grunddienstbarkeiten - also Vereinbarungen privatrechtlicher Natur - fest, wie in dem Gebiet gebaut werden sollte. Es sollten hochherrschaftliche Anwesen auf großzügigen Grundstücken in parkähnlicher Manier sein, prächtig, aber nicht riesig. Der Geist dieser Vereinbarungen erinnert an heutige Gefechtslagen: Es gibt immer Ärger, wenn in eine gepflegte Siedlung aus großzügigen Einfamilienhäusern ein Mehrfamilienhaus platziert werden soll. Diese Art Bauverdichtung ist bis heute nicht beliebt. Und eben dies wollten die Eigentümer von 1900 auch verhindern.

 Auszug aus einem alten Katasterblatt: Die gestrichelte Linie markiert die 40-Meter-Grenze auf dem Areal südlich der Tiergartenstraße, auf dem laut Grunddienstbarkeit aus dem Jahr 1900 nur "herrschaftliche Wohnhäuser" errichtet werden dürfen. Die drei weiß umrandeten Grundstücke links markieren das heutige Grundstück der Waldorfschule. Der schmale Streifen links mittig (entlang der gestrichelten Linie zur Kaiserstraße hin) ist übrigens mit keiner Grunddienstbarkeit belegt - das gehe auf einen Schreibfehler des Notars zurück, hat Architekt Piet Reymann ermittelt.

Auszug aus einem alten Katasterblatt: Die gestrichelte Linie markiert die 40-Meter-Grenze auf dem Areal südlich der Tiergartenstraße, auf dem laut Grunddienstbarkeit aus dem Jahr 1900 nur "herrschaftliche Wohnhäuser" errichtet werden dürfen. Die drei weiß umrandeten Grundstücke links markieren das heutige Grundstück der Waldorfschule. Der schmale Streifen links mittig (entlang der gestrichelten Linie zur Kaiserstraße hin) ist übrigens mit keiner Grunddienstbarkeit belegt - das gehe auf einen Schreibfehler des Notars zurück, hat Architekt Piet Reymann ermittelt.

Foto: Stadt Krefeld

Reymann brauchte einige Zeit, um zu rekonstruieren, was denn nun für welche Parzellen vereinbart worden ist. Zum einen gab es Urkunden in Sütterlin-Schrift, zum anderen hatte sich die Nummerierung der Parzellen geändert. Erst mit einem Katasterauszug aus dem Jahr 1906 gelang es ihm, die Geschichte der Parzellen und ihrer Grunddienstbarkeiten zu schreiben.

Und so stieß er auf die Vereinbarung, die das Bauvorhaben der Waldorfschule erschüttern sollte: Südlich der Tiergartenstraße, so hieß es, sollten bis in in eine Tiefe von 40 Meter ausschließlich "herrschaftliche Wohnhäuser" mit Vorgarten, höchstens zwei Geschossen und einer Mansarde von einer Länge von höchstens zehn Metern gebaut werden. Kurz und gut: Die Waldorfschule in ihrer heutigen Form hätte nie gebaut werden dürfen. Das ist nun juristisch nicht mehr problematisch; für den Komplex, der dort steht, gilt Bestandsschutz. Aus heutiger Sicht muss man sagen: Die Grunddienstbarkeiten aus dem Jahr 1900 sind in Vergessenheit geraten oder wurden bislang nie gegen die Schule in Stellung gebracht. Das hängt auch mit den Anfängen der Waldorfschule zusammen. Die Keimzelle für die Schule war ein hochherrschaftliches Haus, die Villa Eicheck, baulich also unproblematisch. Gestiftet wurde es von der Krefelderin Lilly Speck-Hecker, die tief überzeugt war von der Anthroposophie Rudolf Steiners und seiner Waldorfpädagogik. Die Waldorfpädagogik war in der Nazi-Zeit verboten; der Neuanfang war also auch ein moralischer. Dazu passt ein anrührendes Detail: Lilly Speck-Hecker berichtet, der britische Stadtkommandant Krefelds habe in England sein behindertes Kind in die Obhut einer Waldorfschule gegeben - so war ihm das Konzept vertraut, die Feindschaft der Nazis gegenüber dieser Schulart war ein Ritterschlag; und so genehmigte der Brite die Schulgründung. Die folgenden Ausbauten sind dann nie problematisch gewesen, so dass die Bauherren von 2015 in gutem Glauben ihre Erweiterung planten.

 So sollte der Anbau der Waldorfschule entlang der Tiergartenstraße aussehen. 2015 wurden die Pläne vorgestellt - und dann auf Eis gelegt.

So sollte der Anbau der Waldorfschule entlang der Tiergartenstraße aussehen. 2015 wurden die Pläne vorgestellt - und dann auf Eis gelegt.

Foto: Reymann

Als Laie fragt man sich, wie Vereinbarungen, die 115 Jahre alt sind, noch hindernde Kraft haben können. Uralt-Privatrecht bricht modernes Verwaltungsrecht? Die Grundstücke sind mittlerweile vielfach geteilt, vielfach neu bebaut, haben vielfach den Besitzer gewechselt. Prinzipiell, so scheint es aber, gelten Grunddienstbarkeiten. Und jede Baugenehmigung, erläutert Reymann, die heute in Deutschland erteilt werde, werde "vorbehaltlich der Rechte Dritter" erteilt - auch die Behörden geben Raum für mögliche andere rechtswirksame Vereinbarungen. Heißt ja auch: Die Genehmigung der Stadt hätte keine endgültige Rechtssicherheit für den Bauherrn gestiftet.

 Detektivarbeit: Waldorfschulsprecher Knut Habicht (l.) und Architekt Piet Reymann berichten von ihren Recherchen zum Thema "Grunddienstbarkeiten" aus dem Jahre 1900; diese Vereinbarungen haben letztlich den geplanten Anbau der Schule gestoppt.

Detektivarbeit: Waldorfschulsprecher Knut Habicht (l.) und Architekt Piet Reymann berichten von ihren Recherchen zum Thema "Grunddienstbarkeiten" aus dem Jahre 1900; diese Vereinbarungen haben letztlich den geplanten Anbau der Schule gestoppt.

Foto: Jens Voss

Und so gab es zwei Optionen, wie Reymann berichtet: Einfach bauen und riskieren, dass es zu Prozessen vor dem Verwaltungsgericht kommt - doch niemand konnte den Verantwortlichen garantieren, dass man solche Prozesse gewinnt. Im schlimmsten Fall hätte man den Bau wieder abreißen müssen. Option zwei war es, alle geschätzt 200 Eigentümer, die es mittlerweile auf dem Areal gibt, zu Verhandlungen einzuladen und zum Verzicht auf die entsprechenden Grunddienstbarkeiten zu bewegen. "Ich bin mir sicher", sagt Reymann und lächelt, "es gibt immer den einen, der sagt: Och, ich find die gar nicht so schlecht, ich will, dass sie bleiben."

So wurde der Bauplan auf Eis gelegt.

Die Schule plant jetzt erst einmal eine Interimslösung: Sie hat mit der Stadt vereinbart, bis Mitte 2022 die Hälfte des unbebauten Wiesengrundstückes der Stephanusschule an der Kaiserstraße gegenüber dem Waldorfkindergarten mit provisorischen Klassenräumen zu nutzen.

(RP)
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