Zum Tage Kriegsende vor 70 Jahren: Gebet als Antwort auf unsägliches Leid

Krefeld · Wie noch nach Auschwitz an Gott glauben? Diese Frage bewegt die Theologie, muss alle bewegen, die ihren Glauben ernstnehmen. Wir sollten nicht vorschnell mit einer Antwort sein, sondern vielleicht zuerst auf die hören, die dabei gewesen sind.

Zum Beispiel auf Elie Wiesel, Friedensnobelpreisträger von 1986, der Auschwitz und Buchenwald überlebte. In seinem Theaterstück "Der Prozess von Schamgorod" lässt er Juden, die schlimme Pogrome überlebt haben, über Gott zu Gericht sitzen. Gott ist angeklagt wegen Feindseligkeit, Grausamkeit und Gleichgültigkeit.

Das Theaterstück endet, bevor ein Urteil verkündet wird, doch Elie Wiesel hat in einem späteren Interview - in Erinnerung an einen tatsächlichen gedanklichen Prozess, dem er in einem Todeslager beigewohnt hatte - das Stück weiterentwickelt und gesagt: "Die Verhandlungen des Tribunals zogen sich lange hin. Und schließlich verkündete der Vorsitzende das Urteil: Schuldig. Und dann herrschte Schweigen, ein Schweigen, das mich an das Schweigen am Sinai erinnerte, ein endloses, ewiges Schweigen. Aber schließlich sagte mein Lehrer, der Rabbi: Und nun, meine Freunde, lasst uns gehen und beten. Und wir beteten zu Gott, der gerade, wenige Minuten vorher für schuldig erklärt worden war." (zitiert nach: Elie Wiesel, in: Olaf Schwenke (Hg.), Erinnerung als Gegenwart. Elie Wiesel in Loccum, Loccum 1987)

Das Gebet als Antwort auf unsägliches Leid. Können und dürfen diese Antwort nur die geben, die gelitten haben? Sicherlich ist uns Nachgeborenen jede vorschnelle Antwort verboten, doch aus meinem Glauben und meiner Erfahrung möchte ich sagen: Es stimmt; das Gebet ist die Antwort auf unsägliches Leid.

Das Gebet ist die Antwort auf das Schweigen Gottes. Jesus betete am Kreuz. Und im Gebet erfahre ich auch in grenzenlosem Unverständnis die Wahrheit des Psalmverses (145,14) "Der Herr hält alle, die da fallen, und richtet auf alle, die niedergeschlagen sind."

Vielleicht dauert es eine lange schmerzvolle Zeit, bevor ich erfahre, dass ich gehalten und aufgerichtet werde, doch es geschieht. "Lasst uns gehen und beten", sagt Elie Wiesel. Das Gebet und der Einsatz, dass das, was heute vor siebzig Jahren - Gott sei Dank - endete, sich niemals wiederholt.

Wir sollten uns wehren, wenn die Shoa verharmlost oder geleugnet wird und Neonazis den öffentlichen Raum für sich beanspruchen. Wehren auch, indem die Religionen aufeinander zugehen, miteinander reden und so gemeinsam für den Frieden eintreten - im Namen des Einen.

PFARRER MICHAEL WINDHÖVEL, FRIEDENSKIRCHE

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort