Tim Stritzel Plötzlich grün - wie ist das passiert, Herr Stritzel?

Krefeld · Tim Stritzel war JU-Chef, Angela-Merkel-Fan - und ist am Tag der Landtagswahl bei den Grünen eingetreten. Wir sprachen mit ihm über den Wandel seines Denkens. Er berichtet von einem erstaunlichen Ort in Indien: der Musterstadt Auroville, einem Experiment der Unesco. Heute sagt er: "Wir brauchen mehr Grün, nicht weniger" - und er fordert: Die Grünen dürfen sich nicht verzetteln.

 Tim Stritzel hat Politik und Kommunikationswissenschaft studiert. Neben ihm steht eine Figur des indischen Elefantengottes Ganesha - eine Mischung aus Elefant und Mensch. Stritzel erläutert dazu: Die Verbindung von Mensch- und Tierwelt repräsentiert das Prinzip der Mitgeschöpflichkeit. Der Gott hält ein Buch - Sinnbild für reflektiertes Handeln. Sein Reittier ist eine Ratte - Sinnbild dafür, dass auch das kleinste Lebewesen Gottes großen Plan mittragen kann.

Tim Stritzel hat Politik und Kommunikationswissenschaft studiert. Neben ihm steht eine Figur des indischen Elefantengottes Ganesha - eine Mischung aus Elefant und Mensch. Stritzel erläutert dazu: Die Verbindung von Mensch- und Tierwelt repräsentiert das Prinzip der Mitgeschöpflichkeit. Der Gott hält ein Buch - Sinnbild für reflektiertes Handeln. Sein Reittier ist eine Ratte - Sinnbild dafür, dass auch das kleinste Lebewesen Gottes großen Plan mittragen kann.

Foto: Lammertz

Herr Stritzel, Sie sind am Tag der Landtagswahl bei den Grünen Mitglied geworden. Was ist passiert? Sie haben Fotos von Ihnen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Wand hängen, Sie waren 2010 in einer Kampfabstimmung zum Krefelder JU-Chef gewählt worden, Sie wirkten wie ein Musterbeispiel für einen aufstrebenden JU-Politiker.

Stritzel (lacht) Finden Sie? Ich hatte eigentlich schon immer das Gefühl, der Grünste unter den JU-Mitgliedern und in der CDU zu sein. Und ich hatte zunehmend Probleme, mich mit den CDU-Positionen zu identifizieren. Das war ein Prozess, der bei mir etwa 2011 immer drängender wurde und zu sehr grundlegenden Reflexionen geführt hat. Schließlich bin ich aus der CDU ausgetreten.

War es eine Trennung im Streit?

Stritzel Nein. Ich habe heute noch guten Kontakt zu vielen JU- und CDU-Leuten, von denen ich auch einige als Freunde bezeichne. Es ging bei mir eher um eine grundlegende Umorientierung. Ich habe erst bei Winfried Schittges im Landtag gearbeitet, war dann Marketing-Manager bei einem Unternehmen und habe auch das aufgegeben. Ich habe dann eine Art Auszeit genommen und bin nach Auroville gegangen. Das ist ein Unesco-gefördertes Projekt in Süd-Indien, eine Art Menschheitsmusterstadt, in der Menschen aus vielen Nationen, Religionen und Kulturen das Zusammenleben proben. Aber auch das, was man in Indien darüber hinaus sehen konnte, hat mich geprägt.

Was meinen Sie?

Stritzel In Indien kann man auf bedrückende und überaus klare Weise sehen, wie es ist, wenn sich sehr viele Menschen sehr wenig teilen müssen und zum Beispiel täglich regelrecht um ihr Essen kämpfen. Man kann dort auch sehen, wie es ist, wenn es viel zu viele Fahrzeuge und toxische Abgase auf engem Raum gibt, und was Überbevölkerung, Plastikmüll, politische Korruption und Klimawandel mit unserem Lebensraum macht. Die Idee der Nachhaltigkeit bekommt dort eine ganz andere Wucht. Wenn man das sieht, dann weiß man: Wir brauchen heute mehr Grün und nicht weniger.

Indien ist für manchen auch ein Land religiöser Erweckung. Hat dieser Aspekt in Auroville und für Sie eine Rolle gespielt?

Stritzel Auroville öffnet sich allen Glaubensrichtungen und natürlich Naturwissenschaften. Statt einem institutionellen Souverän, wie einem Staat oder einer Kirche, wird zum Beispiel von einem Band des Lebens als kleinstem und größtem gemeinsamen Nenner gesprochen, das uns und alles Existierende verbindet. In Auroville geht es darum, das Zusammenleben der Religionen und Kulturen zu erproben. Meine Sicht der Religionen hat sich allerdings schon geändert, auch dies in einem längeren Prozess. Ich war evangelisch und habe mich mittlerweile für alle Religionen geöffnet. Ich finde den Aspekt einer religiös getragenen Weltehtik und die Frage nach dem Gemeinsamen in allen Religionen spannend. "Einheit in der Vielfalt", nennt der Hinduismus das.

Und warum der Eintritt bei den Grünen gerade am Wahlabend?

Stritzel Das war eine Reaktion auf das Wahlergebnis, wenn Sie so wollen: der Schock, dass die Grünen an politischem Gewicht verloren haben.

Selber schuld, oder? Macht es Sie nicht wütend, wie die Grünen ihren Kredit verspielen? Sitzen in der Babylonischen Gefangenschaft der SPD, verzetteln sich in verbissen Kämpfen gegen jedes Gewerbegebiet, sind unfähig, sich gegenüber der CDU und der FDP zu öffnen, weil alles gleich wichtig ist: die Rettung des Klimas, die Gleichstellung der Ehe für homosexuelle Paare, vegan essen.

Stritzel Das sehe ich in Teilen ähnlich. Die Grünen verzetteln sich und verlieren ihren wirklichen Auftrag aus dem Blick. Als die Flower-Power Gedanken der 70er Jahre gesellschaftlich integriert werden wollten, hatten die Grünen eine lebenswichtige Aufgabe, nämlich ökologische Ziele und Verantwortung für die eigene Umwelt zu etablieren. Den Grünen ist es zu verdanken, dass sich alle Parteien heute, von rechts bis links, "Nachhaltigkeit" auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ihre Positionen sind bei allen Parteien in verschiedenen Quantitäten zum Standard geworden. Jetzt wetteifern die Grünen mit den anderen auf Politikfeldern, die ihrem Markenkern fernliegen. Mein Beitritt liegt auch daran, weil ich überzeugt bin, es müsse eine Rückbesinnung auf das Wesentliche am grünen Programm geben: Verantwortung für unsere eigene Evolution und Verantwortung für sich selber, um eine gesunde und schätzbare "Erfahrung Leben" anzustreben.

Muss die Partei sich auch anderen Parteien als der SPD öffnen?

Stritzel Zu 100 Prozent ja. Es gibt Politikfelder, auf denen die anderen Parteien auch gute Programmatik haben; das müssen die Grünen nicht alles selber und ganz anders machen. Im Gegenteil: Eine Partei des Friedens muss als gutes Beispiel vorausgehen und mit allen arbeiten. Vor allem nicht durch Verbote und Druck, sondern durch Förderung und Eigenmotivation. Kooperation, statt Isolation - das ist für mich unsere Aufgabe auf allen gesellschaftlichen Feldern - kommunal, national, international - und ganz besonders bei den problematischen. Insofern müsste es ein Ziel sein, dass die Grünen sich tatsächlich für andere Parteien öffnen und die Politik aller Parteien - selbst aus der Opposition heraus - fördern und ökologisch immer wieder für uns "glätten". Die Gleichstellung der Ehe für Homosexuelle zum Beispiel sollte dann nicht mehr ein Bündnis mit der CDU verhindern. Die Veränderung unseres Denkens und Umganges miteinander ist viel elementarer als Ziel.

Streben Sie Ämter in der Partei an?

Stritzel Im Moment bin ich Neu-Mitglied, das sich einbringen und die Partei stützen möchte. Ich will bei der Neuausrichtung aber von Anfang an mitdiskutieren.

Wie ging es weiter nach Indien?

Stritzel Nach dem "Kulturschock Indien" bin ich einige Zeit in Istanbul gewesen, weil es auf der Grenze zwischen Europa und Asien liegt. Ich hab dort auf der Straße syrische Flüchtlinge kennengelernt. Die Geschichte ihrer Flucht und all der Schrecklichkeiten, die sie gesehen haben, haben mich sehr berührt. Sie haben mich mit extremer Herzlichkeit und Menschlichkeit angenommen und am Tag meines Rückfluges am Flughafen verabschiedet und mir Süßigkeiten und Andenken aus Syrien mitgegeben. Auch das hatte eine Konsequenz für mein Leben: Als ich nach Krefeld zurückgekommen bin, habe ich beschlossen, dieses Thema zu meiner Arbeit zu machen. Ich habe den Integration Point für jugendliche Flüchtlinge in Krefeld übernommen. Diese zentrale Anlaufstelle, die an die Bundesagentur für Arbeit angedockt ist, bietet praktische und individuelle Hilfen auf dem Weg zur Integration.

Wie sind Sie als ehemaliges CDU-Mitglied bei den Grünen aufgenommen worden? War der ehemalige JU-ler für die grüne Basis ein Kulturschock?

Stritzel (lacht) Nein, ich bin da sehr gut aufgenommen worden. Die Grünen sind jetzt in einer wichtigen Phase der Selbstreflexion. Ich möchte gern daran mitarbeiten, dass das Gefüge der Menschen, die sich engagieren, enger wird. Es ist nicht immer einfach in unserem, uns selbst auferlegten System. Nicht einmal Auroville kennt das vollständige Geheimnis zu mehr lebenswerter Existenz. Aber das gilt es zu entwickeln - und: Es gibt technologische Lösungsansätze, seit langer Zeit, die uns helfen, uns auf diesem Planeten wohler zu fühlen. Aufeinander zugehen, auch: füreinander da sein und einen Beitrag leisten, der am Ende für alle wichtig, im besten Fall sogar überlebenswichtig ist.

JENS VOSS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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