Krefeld Separatisten stürmen im Oktober 1923 das Krefelder Rathaus

Krefeld · Der Zufall spielte dem Leiter des Krefelder Stadtarchivs ein Foto aus einer blutigen Episode der Krefelder Stadtgeschichte zu. Es ist zugleich ein Zeugnis für ein Stück europäischer Geschichte.

 Das Foto zeigt das Dienstzimmer des Krefelder Oberbürgermeisters Johann Johansen mit einer großen Blutlache, die von einer blauen Polizeimütze und einer zu Boden gefallenen Pistole gesäumt wird.

Das Foto zeigt das Dienstzimmer des Krefelder Oberbürgermeisters Johann Johansen mit einer großen Blutlache, die von einer blauen Polizeimütze und einer zu Boden gefallenen Pistole gesäumt wird.

Foto: Stadtarchiv

Das Jahr 1923 ist ein deutsches Schicksalsjahr. Hyperinflation, Konservative kämpften gegen Sozialisten, die französischen Besatzer besetzten gegen den passiven Widerstand der Bevölkerung das Ruhrgebiet, um angebliche Rückstände bei der Zahlung der Reparationen einzutreiben, und die ehemalige Rheinprovinz versuchten in den Jahren 1919 bis 1924 separatistische Sonderbündler in einen autonomen Pufferstaat zwischen Frankreich und Deutschland umzuwandeln, die sogenannte Rheinische Republik. Die Besatzer unterstützten die ursprünglich gegen Preußen gerichtete Bewegung tatkräftig mit Waffen oder "neutral" wie die Belgier in Krefeld. Eine neu errichtete Rheinische Republik, die von ihrem Wohlwollen abhängig war, sollte den Franzosen helfen, ihre Einflusszone langfristig bis zur Rheingrenze ausdehnen zu können.

Olaf Richter, der Leiter des Stadtarchivs, hat gerade einen tiefen Einblick in diesen wilden Teil der Krefelder Stadtgeschichte genommen. "Was sich damals hier in Krefeld getan hat, bietet eine gute Grundlage für einen Roman", zeigt er sich beeindruckt. Eine Besucherin des Archivs hatte ihn auf ein frühes Farbfoto aufmerksam gemacht, das sie in einem Bildband unter dem Titel "The wonderful world of Albert Khan" gefunden hatte und nicht einordnen konnte. Das Foto zeigt das Dienstzimmer des Krefelder Oberbürgermeisters Johann Johansen mit einer großen Blutlache, die von einer blauen Polizeimütze und einer zu Boden gefallenen Pistole gesäumt wird.

Khan wurde 1860 als Sohn eines jüdischen Viehhändlers im elsässischen Noirmoutier geboren, ging nach Paris, um Jura zu studieren, und machte dann als Bankier ein Riesenvermögen, das ihn zu einem der reichsten Männer Europas machte. Dieses nutzte Khan zum Aufbau des damals weltweit größten ethnologischen Foto- und Filmarchiv nutzte, dem "Archives de la Planète". Dazu schickte er zwischen den Jahren 1909 und 1931 Fotografen in alle Welt, deren Ausbeute schließlich 180 Kilometer Schwarz-Weiß-Film auf 35 Millimeter-Bändern, 4000 Schwarz-Weiß-Aufnahmen und 72000 Aufnahmen auf Autochrome-Platten ergab, einer frühen Farbaufnahmen-Technik der Gebrüder Lumiére Der Weltbürger Khan, mit Philosophen wie Henri Bergson befreundet, der mit zeitgenössischen Größen wie Albert Einstein und Auguste Rodin korrespondierte, wollte durch die visuelle Darstellung des Alltagslebens von Menschen anderer Kulturen Verständnis für Andersartigkeit herstellen und dadurch eine friedlichere Welt erreichen, als es der Weg in den Ersten Weltkrieg gezeigt hatte.

Einer der von Khan ausgesandten Fotografen, Frédéric Gadmer, weilte zufällig in Krefeld, als die Separatisten überall im Rheinland mit ihrem Sturm auf die Rathäuser begannen. Der Vertreter der belgischen Besatzungstruppe wollte der Krefelder Verwaltung keine Hilfe zusagen. Daher ließ Oberbürgermeister Johansen das Rathaus mit Stacheldraht und Sandsäcken sichern und zog am Montag, dem 22. Oktober Polizei und Hilfspolizisten zusammen. Die Zugänge zum Westwall, Weststraße und zur Lutherischen Kirchstraße wurden mit Spanischen Reitern versperrt. Um 21 Uhr in der Nacht zum Dienstag eröffneten die Aufständischen das Feuer. Die Kämpfe dauerten mehrere Tage an. Erst als den Verteidigern ihre 19000 Schuss Munition fast ausgegangen waren, blieb ihnen nur noch die Übergabe des Rathauses übrig. Die Separatisten zogen ins Rathaus ein, hissten ihre grün-weiß-rote Fahne und riefen die Rheinische Republik aus. Ein halbes Dutzend Separatisten und die beiden Polizisten Hermann Josef Lenssen und August Schneider hatten ihr Leben verloren. Das Blut auf dem Foto, das Gadmer aufgenommen hatte, stammt wohl von Schneider. Dieser war im Zimmer des OB angeschossen worden. auf dem Wege ins Krankenhaus hatte Schneider weitere Schüsse abbekommen, worauf er im Krankenhaus verstorben war.

Die Rheinische Republik bestand in Krefeld ganze 14 Tage. Trotz wohlwollender Unterstützung durch die belgischen Besatzer ging sie an der Haltung der Krefelder zugrunde, auf die der separatistische Virus nicht überspringen wollte, drückten sie doch in der Inflationszeit ganz andere Sorgen. Am 8. November 1923 zogen die Separatisten ab und wurden von den Belgiern entwaffnet. Kurz zuvor soll der Sturm auf das Rathaus für Filmaufnahmen nachgestellt worden sein. Auf Druck der Belgier erfuhren die Separatisten kleine Bestrafung.

Khan verlor in der Weltwirtschaftskrise sein Vermögen. Er starb nach der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 völlig verarmt in Boulogne-Billancourt bei Paris. Er hinterließ einen Koffer mit seinen Fotos, die der Nachlassverwalter auf 500 Franc bezifferte, soviel wie der Wert des Koffers. Sein Museum übernahm der französische Staat. Inzwischen besteht zwischen dem heutigen "musée Albert Khan" und dem Krefelder Stadtarchiv ein freundschaftlicher Kontakt. Die Franzosen konnten den Krefeldern noch weitere Bilder aus der Separatistenzeit zur Verfügung stellen und die Krefelder konnten helfen, diese in einen geschichtlichen Kontext zu stellen. "Es ist unglaublich, wie weit wir heute gekommen´sind", sagt Olaf Richter, "wenn man bedenkt, dass die beiden Länder noch vor 70 Jahren gegeneinander gekämpft haben."

(RP)
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