Krefeld Tagebücher der Bahnhofsmission entdeckt

Krefeld · Quellen sind rar, das macht den Fund wertvoll: Die Tagebücher stammen aus den Jahren 1926 und 1931 und werden nun für das Jubiläumsjahr 2017 ausgewertet - mit ungewöhnlicher Hilfe: Senioren entziffern die Sütterlin-Handschrift.

 Annelie Plümer von der Bahnhofsmission mit den beiden "Tagebüchern", die seltene und aufschlussreiche Dokumente aus der Geschichte der Krefelder Bahnhofsmission darstellen.

Annelie Plümer von der Bahnhofsmission mit den beiden "Tagebüchern", die seltene und aufschlussreiche Dokumente aus der Geschichte der Krefelder Bahnhofsmission darstellen.

Foto: Lammertz Thomas

Bei Aufräumarbeiten haben Mitarbeiter der Krefelder Bahnhofsmission zwei sogenannte Tagebücher aus den Jahren 1926 und 1931 entdeckt, in denen die damaligen Mitarbeiterinnen die Ereignisse des Tages im Telegrammstil protokolliert haben. Die Bücher sind wertvolle Dokumente aus der Geschichte der Krefelder Bahnhofsmission, die im Jahr 2017 ihr 110-jähriges Bestehen feiert. "Wir wollen die Bücher auswerten und eine Chronik erstellen; es soll eine Festschrift erscheinen, und wir möchten eine Ausstellung mit Plakaten, Fotos und Gegenständen ausrichten", erläutert Annelie Plümer von der Bahnhofsmission. Zurzeit werden die Tagebücher mit Hilfe von Senioren ausgewertet, die Sütterlinschrift lesen können.

 Eintrag vom 30.4. 1931 - soweit zu entziffern, steht dort: "Junger Mann wollte zur Herberge; war aus der Strafanstalt entlassen worden. Er hatte kein Geld mehr. Habe ihn zum Kaplan Busselaer geschickt."

Eintrag vom 30.4. 1931 - soweit zu entziffern, steht dort: "Junger Mann wollte zur Herberge; war aus der Strafanstalt entlassen worden. Er hatte kein Geld mehr. Habe ihn zum Kaplan Busselaer geschickt."

Foto: Lammertz Thomas

Bislang waren die Nachforschungen zur Geschichte der Mission eher mühsam. Edgar Sonnenschein hat diese Aufgabe übernommen. "Ich bin seit einem halben Jahr dabei, die Geschichte der Bahnhofsmission aufzuarbeiten, aber ich habe bislang nicht sonderlich viel gefunden", berichtet er. Durch die beiden Bücher gewinnt die Geschichtsschreibung entschieden an Farbe. Ein anrührendes Beispiel betrifft einen Eintrag aus dem Jahr 1926. Berichtet wird von einem verzweifelten 15-jährigen Mädchen. Die junge Frau war von ihren Eltern in Essen auf die Reise nach Bedburg-Hau am Niederrhein bei Kleve geschickt worden, wo das Mädchen eine Stellung als Hausmädchen antreten sollte. Die Mutter hatte ihrer Tochter eine Fahrkarte bis Krefeld gelöst und dazu 40 Pfennig gegeben - in der irrigen Annahme, dass Bedburg-Hau dicht bei Krefeld liegt. "Das Mädchen war verzweifelt, weil es nicht weiterkam", vermerkt das Tagebuch der Bahnhofsmission und schreibt abschließend: "Sie erhielt Fahrkarte bis Bedburg-Hau für 1,90 Mark."

In den ersten Jahrzehnten waren es vor allem Arzt- und Pfarrersgattinnen, die die Bahnhofsmission ehrenamtlich betreuten. In Krefeld hat über Jahrzehnte bis in die 60er Jahre hinein die Arztehefrau Frieda Sterzing die Station betreut.

Bei der Entzifferung der Tagebücher helfen Senioren aus der Kursana-Residenz. Der Kontakt kam durch eine Kaffeespende zustande, an die sich Annelie Plümer gern und gerührt erinnert: Eines Tages stand eine Abordnung aus dem Seniorenheim vor der Bahnhofsmission und übergab 28 Kaffeepäckchen, gesammelt unter den Senioren des vollstationären Pflegebereiches in der Residenz. Die Bewohner hatten den Aufruf zu Kaffeespenden für die Aktion "Eine Tasse Menschlichkeit" in der Zeitung gelesen - Senioren, die, wie Plümer betont, meist selber nicht viel Geld haben. Die nächste Sammelaktion der Kursana Residenz mit allen Bewohnern der Residenz- auch des betreuten Wohnens- ist im März 2017 geplant.

 Senioren der Kursana-Residenz helfen, die Sütterlin-Schrift zu entziffern. Rechts stehend Annelie Plümer, links stehend Klaudia Nowack, Leiterin Soziale Betreuung im stationären Bereich.

Senioren der Kursana-Residenz helfen, die Sütterlin-Schrift zu entziffern. Rechts stehend Annelie Plümer, links stehend Klaudia Nowack, Leiterin Soziale Betreuung im stationären Bereich.

Foto: T.L.

Die Anekdote von dem Mädchen aus dem Jahr 1926 zeigt, dass die Krefelder Bahnhofsmission wie alle Bahnhofmissionen in Deutschland im Laufe ihrer Geschichte die verschiedensten Aufgaben übernommen haben.

Als die erste Bahnhofsmission 1894 in Berlin gegründet wurde, war das Ziel, allein reisenden Mädchen und jungen Frauen Schutz und Hilfe anzubieten, damit sie nicht in die Prostitution abgleiten. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörten zur Klientel der Bahnhofsmission zurückkehrende Soldaten, Flüchtlinge, amnestierte Strafgefangene und Auswanderer. Die Organisation wuchs, es wurden auch hauptamtliche Mitarbeiterinnen eingestellt, die ehrenamtlichen Helfer wurden zunehmend geschult und auf ihre Arbeit in der Bahnhofsmission vorbereitet. Anfang der 30er Jahre sind es hauptsächlich allein reisende Kinder, Landhelfer und arbeitslose Jugendliche, derer sich die Bahnhofsmission annahm. 1939 verboten die Nazis die Organisation zugunsten der linientreuen "Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt".

In den Wirren der Nachkriegsjahre betreuten die wiedereröffneten Bahnhofsmissionen zahlreiche Menschen in Not - herumirrenden Familienmitglieder, Heimkehrer aus dem Krieg, Vertriebene und Flüchtlinge. In der DDR werden die Bahnhofsmissionen verboten, angeblich wegen Spionage; einige Mitarbeiterinnen wurden inhaftiert.

Ab den 60er Jahren waren auf westdeutschen Bahnhöfen viele Einwanderer und Gastarbeiter unterwegs, die sich in Deutschland nicht auskannten. Für sie und ihre Familien wurden die Bahnhofsmissionen zur ersten Anlaufstelle. Das Gleiche gilt für zahlreiche Rentner aus der DDR, die ab 1964 aus der DDR in den Westen ausreisen durften. Überhaupt waren die Bahnhofsmissionen wertvolle Hilfe für reisende Senioren.

Seit den 80er Jahren kamen Aussiedler und Asylsuchende sowie Wohnungslose dazu; überhaupt wird die Bahnhofsmission zunehmend zur Anlaufstelle für soziale Randexistenzen: Obdachlose, Drogenabhängige, Verarmte und Arme wie Senioren, die kaum von ihrer Rente leben können. Die kirchliche Bindung ging nie verloren; bis heute versteht sich die Bahnhofsmission als "Kirche am Bahnhof", als Ausdruck christlicher Nächstenliebe. Träger sind katholische und evangelische Verbände - die Krefelder Bahnhofsmission wird von der evangelischen Diakonie getragen.

(RP)
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