Langenfeld Mutter eines Genies - Opfer der NS-Terrors

Langenfeld · Zu den 368 Langenfelder Klinik-Patienten, die 1941 in der NS-Tötungsanstalt Hadamar ermordet wurden, gehörte die Mutter des weltberühmt gewordenen Komponisten Karlheinz Stockhausen.

 Der Gedenkstein auf dem Gelände der LVR-Klinik erinnert an die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde.

Der Gedenkstein auf dem Gelände der LVR-Klinik erinnert an die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde.

Foto: Ralph Matzerath

Ob Julika, Simon und Markus Stockhausen eines Tages in Langenfeld zusammenkommen werden, wo ihre Großmutter Gertrud die letzten acht Jahre ihres Lebens verbrachte? In Hadamar waren sie bereits, die Kinder von Karlheinz Stockhausen (1928 bis 2007), einem der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts: In der ehemaligen Tötungsanstalt bei Montabaur gedachten sie ihrer Großmutter, die dort ermordet wurde.

Dass die Enkel zusammenfanden und sich mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzten, ist laut Körber-Stiftung einer Schülerin zu verdanken. Die Stiftung veranstaltet den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Lisa Quernes, Preisträgerin von 2013, hat das Schicksal der Komponisten-Mutter dem Vergessen entrissen. Dem Vergessen auch der Familie, denn Ex-Mann und Sohn der Ermordeten hatten - wie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" jetzt berichtet - Anteil an dem Schweigen.

Das entscheidende Puzzlestück fand Lisa Quernes, heute 20, damals noch Schülerin des Landesmusikgymnasiums Montabaur, im Bundesarchiv in Berlin: Gertrud Stockhausens Krankenakte aus der Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen (heute LVR-Klinik Langenfeld). Diese war bis 1990 im NS-Archiv des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit unter Verschluss. Aus der Akte und anderen Quellen fügte die Schülerin ein Bild zusammen, das von einer "tieftraurigen Leidensgeschichte" (FAS) kündet.

Demnach erlitt Gertrud Stockhausen, geboren 1900 und aus einer reichen niederrheinischen Bauernfamilie stammend, im Alter von 32 Jahren offenbar nach der Geburt ihres dritten Kindes eine schwere Psychose. Nachdem sie sich laut ihrem Mann Simon aus dem Fenster stürzen wollte, lässt dieser sie Ende 1932 in Galkhausen einweisen. Der Lehrer gibt zu Protokoll, dass seine Frau "schon seit Jahren neurotisch" sei und ihn des "sexuellen Verkehrs mit ihren eigenen Kindern" bezichtigt habe (das älteste, der später weltberühmte Komponist, ist damals vier). Dagegen gibt der "Bruder der Patientin" dem Ehemann die Schuld an Gertruds Zustand: Sie sei "in ihrer Ehe den größten Belastungsproben ausgesetzt gewesen". Der Verfasser der Aktennotiz bescheinigt dem Bruder "unbedingt glaubwürdigen Eindruck".

1937 lässt sich Simon Stockhausen von seiner Frau scheiden, wird NSDAP-Mitglied und Blockleiter in Altenberg. Gertrud, inzwischen im fünften Jahr in Galkhausen, erhält nach einem Zeitzeugenbericht nicht etwa einen Familienangehörigen, sondern ein Parteimitglied als Vormund - einen Vertreter jenes Regimes, das nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (1934) die "Vernichtung unwerten Lebens" vorbereitet.

Nach Kriegsausbruch ist es soweit, die "Aktion T4" läuft an, die systematische Ermordung von psychisch kranken und geistig behinderten Menschen. Mindestens 70 000 fallen ihr schließlich zum Opfer, die Toten der "wilden Euthanasie" nach Einstellung der Aktion nicht mitgezählt. Gertrud Stockhausen wird am 27. Mai 1941 mit einem der berüchtigten grauen Busse nach Hadamar überführt und noch am selben Tag in der Gaskammer getötet.

Nach dem Krieg legte sich Schweigen über die "Euthanasie"-Verbrechen, in der deutschen Öffentlichkeit, aber auch in vielen Familien. Seit den 80er Jahren wird diese Mauer aufgebrochen. Arbeiten wie die von Lisa Quernes bringen weiteres Licht ins Dunkle. In der heutigen LVR-Klinik erinnert ein Gedenkstein an die "Euthanasie"-Opfer. Vielleicht werden einmal auch Enkel und Urenkel von Gertrud Stockhausen davorstehen.

(RP)
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