Leverkusen Ibsens Volksfeind lässt es nach der Pause krachen

Leverkusen · Dass der Theaterabend im Bayer-Erholungshaus ein besonderer werden würde, erkannten die meisten Besucher sofort. Noch vor Beginn der Aufführung wanderten in Bademantel, Hausschuhe und Taucherbrille bekleidete, Cocktail schlürfende Gäste durch die wartende Meute im Foyer und betrachteten vergnügt die Bayer Sonderausstellung "125 Jahre Werk am Rhein". "Sind sie nicht ein wenig overdressed?", fragte einer der Schauspieler einen Gast, "wir sind schließlich hier in einem Erholungshaus", erklärte er, nachdem er sich als "Kurgast" ausgegeben hatte.

Kurz darauf waren die Schauspieler auf der Bühne zu finden und führten "Ein Volksfeind" von Henrik Ibsen auf. Ein zeitloses Stück, das 1882 geschrieben wurde und heute aktueller denn je ist. "Wir wollten ein Stück, das zur Zeit der Werksverlegung an den Rhein Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde", sagte Reiner-Ernst Ohle vom Referat Theater der Bayer Kultur Abteilung. Dass es Ibsens Volksfeind wurde, aufgeführt vom städtischen Theater Chemnitz, war recht naheliegend. Ohle: "Nach Shakespeare werden Ibsens Stücke in Deutschland am meisten aufgeführt."

Es geht um Wahrheit, Freiheit, Mehrheit und Recht. Der Badearzt Dr. Thomas Stockmann entdeckt, dass das Wasser, das der Kurort benutzt, hochgradig verseucht ist, und die Gäste dadurch erkranken. Er will die Wahrheit ans Licht bringen und stößt dabei auf viel Gegenwehr. Schließlich seien die ökonomischen Interessen der Stadt wichtiger als die Gesundheit der Gäste. Die Sanierung würde zu viel kosten, das Bad müsste lange geschlossen bleiben, der Kurort würde den guten Ruf verlieren. Doch Stockmann lässt sich nicht beirren.

Während die ersten beiden Akte recht langatmig mit ausführlichen Dialogen den Spannungsbogen aufbauten, knallte es nach der Pause. Der Spielsaal entwickelte sich regelrecht zu einer öffentlichen Sitzung, die Schauspieler nahmen im Publikum Platz und suggerierten dem Publikum hautnah das Dilemma des Liberalismus. Die Erkenntnis des Abends: "Die große Entdeckung, die ich in den letzten Tagen gemacht habe, ist, dass alle Quellen unseres geistigen Lebens vergiftet sind und dass unsere gesamte bürgerliche Gesellschaft auf dem verpesteten Boden der Lüge aufgebaut ist", erklärte Stockmann bei seiner impulsiven und emotionalen Rede. Dabei gab es viel Applaus vom Publikum, welches sich dann aber doch wieder vom Held distanzierte, als dieser in seiner Verwandlung selbst eine radikale Haltung annahm und fast zum Anarchismus aufrief.

Mit einem offenen Ende bot das Stück keine Lösung, sondern viele Interpretationsansätze. In multimedial geprägten Zeiten bot es eine Steilvorlage für eine kritische Auseinandersetzung mit dem vermeintlich liberalen Mehrheitsprinzip einer Demokratie, in der Überzeugungen und Eigeninteressen allzu oft eng verbunden sind. Zudem stellte das Stück einen fanatischen und radikalen Kampf um die "Wahrheit" genauso in Frage wie eine Politik, die von ökonomischen Interessen und Lobbyisten geprägt ist. Das Schauspiel zum Werksjubiläum gelang. Eindrucksvoll.

(hawk)
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