Leverkusen Lippenlahm und doch so viel zu sagen

Leverkusen · Wie Autisten ticken - Ensemblemitglieder des Jungen Theaters gaben der Leverkusenerin Pia Kollbach eine Stimme.

 Das Ensemble des Jungen Theaters Leverkusen brachte die Geschichte der Autistin und Buchautorin Pia Kollbach (vorne) auf die Bühne.

Das Ensemble des Jungen Theaters Leverkusen brachte die Geschichte der Autistin und Buchautorin Pia Kollbach (vorne) auf die Bühne.

Foto: Uwe Miserius

"Die deutlichen Diagnosen, die ich von echten Experten gestellt bekam, waren entsetzlich eindeutig. Schwerer Entwicklungsrückstand, schwerste geistige Behinderung mit Stempel frühkindlicher Autismus. Das war's. Unheilbar unterbelichtet. Schule für geistig Behinderte, sogenannte Sonderschule, später falls verhaltenstechnisch möglich, satte 50 Jahre Werkstatt für Behinderte. Meinen Eltern hätte niemand einen Vorwurf gemacht, hätten sie diesen Weg für mich gewählt." Doch die Eltern von Pia Kollbach haben für sie gekämpft, denn sie erkannten, dass hinter der Sprachlosigkeit ein wacher, aufmerksamer Geist steckt. Nur so war die Autistin 2011 in der Lage, diese knallharte Selbstbetrachtung in ihr Tagebuch zu schreiben. Überhaupt ist Schreiben ihre große Leidenschaft und eine Tastatur bietet die einzige Möglichkeit, ihre Gedanken anderen mitzuteilen. Die Stimme liehen ihr am Wochenende acht Ensemblemitglieder des Jungen Theaters Leverkusen, die in einer außergewöhnlichen Veranstaltung eine Ahnung von dem vermittelten "Wie Autisten ticken".

Eigentlich müsste man dem Titel ein "können" hinzufügen, denn Pia Kollbach ist auf ihre Weise einzigartig. Und ihre Betrachtung der Welt, die sie mit poetischem Gespür zu Gedichten oder Aphorismen formt, sicher auch. Regelrechte Zungenbrecher sind darunter, die von den Vortragenden höchste Konzentration verlangen. Einige machen Schmunzeln, denn Pia Kollbachs Wahrnehmung von Umwelt und Natur ist durchaus von Humor geprägt. Zwischen ausgewählten Beiträgen aus zwei Gedichtsammlungen "GedankenGedichte" von 2014 und "LebensLyrik" von 2016 wurden immer wieder Tagebucheinträge vorgelesen, die helfen, sich ein wenig in die Autistin hineinzuversetzen, gefangen im eigenen Körper.

Wenn sie etwa beschreibt, wie die sie die Notbremse bei der Sprachtherapie zog, weil die furchtbaren Frust in ihr auslöste. Sie verglich ihre Situation mit einem Schlaganfallpatienten, der auf einmal zu keiner Kommunikation mehr fähig ist. Oder sie erzählt von ihrer "sagenhaft sensiblen Nase"und bekennt, dass sie gerne am Kopfhaar ihrer Mitmenschen schnuppert. Dass es kein Paar gibt, das gleich riecht, dass der Duft zwischen Sympathie und Antipathie unterscheidet, und: "Meine Nase vergisst nie."

Petra Clemens hat die Texte für dieses Programm mit Musik ausgewählt. Am Klavier begleitete JTL-Hausmusiker Stefan Esser, der auch Konrektor der Hugo-Kükelhausschule ist, Pias erster Schule. Von dort konnte sie das Landrat-Lucas-Gymnasium besuchen, lange bevor das Wort Inklusion in aller Munde war. Letztes Jahr schloss sie ihr Abitur an der Gesamtschule Schlebusch ab und studiert derzeit Kulturwissenschaften an der Fernuni Hagen, immer mit der Hilfe von sogenannten Integrationshelfern - von denen einige an der musikalischen Gestaltung mitwirkten - an ihrer Seite. Oder der Mutter, die erklärt, dass Pia viel Struktur und Stütze braucht, wenn sie wieder "der Autismus packt". Als erste Nichtsprechende Autistin wurde sie in der Studienstiftung Deutsches Volk aufgenommen. Pia Kollbach bedauert, sie sei "lippenlahm geboren und hätte doch so viel zu sagen."

Wegen der großen Nachfrage denkt das Junge Theater über weitere Vorstellungstermine nach.

(RP)
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