Behindertensport Die Überlebens-Kämpferin

Leverkusen · Nach einem Unfall verliert Vanessa Low beide Beine. Die damals 15-Jährige nimmt den Kampf an. Zehn Jahre später führt sie ein fast normales Leben. Bei den Paralympics in Rio will die Athletin des TSV Bayer Gold für Deutschland holen - auf Beinen, die nicht ihre eigenen sind. Die Geschichte einer beeindruckenden jungen Frau.

 Privater Schnappschuss: Vanessa Low mal nicht im Sportdress.

Privater Schnappschuss: Vanessa Low mal nicht im Sportdress.

Foto: triceps

Es ist sehr warm in Leverkusen. So warm wie lange nicht mehr. Vanessa Low parkt ihr Auto unter der Autobahn. Von dort sind es nur wenige Meter bis zu den Trainingsstätten des TSV Bayer und dem Büro von Jörg Frischmann. "Frischi", wie die Athleten den Geschäftsführer der Behindertensportabteilung liebevoll nennen, wartet schon auf seine Sportlerin.

Low betritt lächelnd den Raum, streift sich durchs Gesicht und lässt sich erleichtert in den Stuhl fallen. "Ich muss jetzt erstmal meine Prothese ausziehen", sagt sie.

Bevor man sich überhaupt eine passende Auftaktfrage zurechtlegen kann, ist man mittendrin im Gespräch. Low zieht einmal kräftig an ihrem Oberschenkel. Damit löst sie ihre Prothese, eine schwarze Oberschenkelhülle aus Karbon, an der eine L-förmige Feder hängt, von ihrem Körper. Zu sehen ist ein Amputationsstrumpf, der ihren Stumpf überdeckt. Ihr Bein lehnt nun neben ihr. Ein seltener Moment. "In der Regel ziehe ich meine Beine öffentlich nicht aus. Das ist eine sehr intime Sache", sagt die 25-Jährige. "Aber wenn es so warm ist wie heute und die Prothesen drücken, ist das unangenehm. Dann mache ich es einfach trotzdem."

Das soll keine Entschuldigung sein, sondern vielmehr eine Erklärung. Low kennt das Staunen. "Prothesen sind nach wie vor die Ausnahme in der Bevölkerung. Ich kann die Leute mittlerweile sehr gut verstehen, wenn sie schauen. Der Anblick ist nun mal immer noch etwas Ungewöhnliches."

Die in Lübeck geborene Sportlerin ist es gewohnt, dass Leute an ihr herunterschauen oder sich nach ihr umdrehen. Sie sehen eine hübsche, blonde junge Frau. Eine, die viel lacht und auch gerne Scherze macht. Hüftabwärts sehen sie metallene Gelenke und Silikonfüße. Low nennt sie "meine Beine, sie sind meine Mobilität". Sie trägt diese von morgens bis abends.

Gedanken, sich in den Rollstuhl zu setzen, hatte sie nie. "Das wäre am Anfang vielleicht einfacher gewesen. Aber das Leben, das ich mir mit meinen Prothesen erarbeitet habe, setzt mir keine Grenzen. Ich brauche keine behindertengerechte Wohnung, ich kann Auto fahren. Ich lebe wie jeder gesunde Mensch. Das gibt mir eine Freiheit, die ich nicht missen möchte."

Was es bedeutet, wenn sie ihre Beine nicht hat, wurde vor einigen Wochen deutlich, als Low bei einem Wettkampf ihre Sport-Prothesen suchte. "Ich wollte sie nur kurz beim Veranstalter abgeben. Als ich zurück kam, waren das Zelt sowie die Abgabestelle abgebaut - und die Leute weg." Mit einem Mal war ihr nicht nur ihre Mobilität, sondern auch ihre Teilnahme an den Paralympics genommen. Low startete einen erfolgreichen Suchaufruf in den sozialen Medien. Zwei Tage später tauchten ihre Beine wieder auf.

Sie ist die einzige doppelt oberschenkelamputierte deutsche Leichtathletin. In ihren Disziplinen, 100 Meter und Weitsprung, trifft sie meist auf Frauen, die noch ein gesundes Bein haben. Die Athletin des TSV Bayer aber hält den Weltrekord im Weitsprung. Kürzlich wurde sie Europameisterin, bei den Paralympics in Rio de Janeiro will sie eine Medaille gewinnen.

Ihr Unfall ist ziemlich genau zehn Jahre her. Der 18. Juni ist ein Tag, über den Vanessa nicht mehr gerne spricht. "Lass uns Du sagen", bietet sie an. Ihre offene, fröhliche Art wirkt ansteckend. Schnell reift das Bild von einer starken Frau mit einem bemerkenswerten Willen. Sie hadert nicht mit ihrem Schicksal, das hat sie nie getan. Auch nicht, als sie aus dem Koma erwacht war und erfuhr, dass sie mit 15 Jahren keine Beine mehr hat. An den Hergang des Unfalls kann sie sich nicht mehr erinnern. Sie weiß nur, dass sie im Bahnhof in Ratzeburg, dem Wohnort der Familie, auf die Gleise geriet. Der Zug erwischt sie. Low erleidet schwerste Verletzungen am gesamten Körper. "Es hat mir geholfen, dass ich langsam aufgewacht bin. Dass ich mich langsam mit der Situation arrangieren konnte. In meiner Wahrnehmung bin ich nicht aufgewacht und hatte keine Beine mehr. Für meine Familie war das sicher viel schwerer."

Außer Lebensgefahr beginnt für Low einer langer Prozess in der Reha. Tag für Tag quält sie sich viele Stunden. "Auch an Tagen, an denen es einem schlecht geht und man emotional noch nicht an der richtigen Stelle ist. Wenn man das nicht tut, kommt man nie dort an, wo man hin will", sagt Low.

Diese Einstellung hat sie bis heute. Im Internet schaut sie sich Videos von Menschen mit Prothesen an. Sie sieht Menschen, die trotzdem Sport treiben und ihr Leben auf wunderbare Art meistern. "Ich dachte, sobald ich Prothesen habe, laufe ich los." Heute lacht sie über diese naive Denkweise. "Man muss das Gehen völlig neu lernen." Monatelang war sie täglich bei der Physiotherapie und in der Gehschule. "Mir hat es geholfen, dass ich versucht habe, schnell wieder am alltäglichen Leben teilzunehmen. Die Normalität kann einem sehr viel Positives bringen."

Die Familie ist dabei ihr starker Rückhalt. Tatsächlich schafft Low, laufen zu lernen. Sie kehrt an ihr Gymnasium in Ratzeburg zurück. Und sie beginnt wieder mit dem Sport. Beim TSV Bayer findet sie 2009 ihre sportliche Heimat, seitdem startet sie für Leverkusen. Nach wenigen Monaten knackt Low den Weltrekord im Weitsprung. Anfang 2010 beginnt sie parallel zum Leistungssport eine Ausbildung zur Mediengestalterin in Köln. Sie arbeitet für RTL, nach Feierabend wird trainiert. Bei den Paralympics in London 2012 schafft sie aber trotzdem nur ihre alte Weite. "Ich kam nicht wirklich weiter und war irgendwann soweit aufzuhören", erinnert sie sich.

Dieses Gedankenspiel war vor zweieinhalb Jahren. Low besucht daraufhin ihre Freundin Katrin Green, ihre langjährige Zimmerkollegin bei Wettkämpfen. Sie lädt Low nach Oklahoma City ein - zu sich und ihrem Mann und Trainer, Roderick Green. Low trainiert spontan in der interdisziplinären Gruppe der Greens mit. Aus dem Besuch wurde eher ein Trainingslager. Roderick Green bietet Low an, sie zu unterstützen. "Sein Ziel: mich zu einer Medaille in Rio zu trainieren."

Low packt ihre Sachen und zieht über den Teich. Sie studiert "halbtags" Digitale Medien, Priorität hat der Sport. Mehr als zehn Einheiten pro Woche schrubbt sie herunter - vier Einheiten auf der Bahn, fünf im Kraftraum, drei Erholungseinheiten und vier Stabilisations-Einheiten. Der Ton ist manchmal rau. Ein "geht nicht" gibt es dort nicht. "Der Trainer ist der Boss. Da fließen Tränen und auch schon mal Blut. Schon am dritten Tag hatte ich zwölf offene Blasen", erinnert sich Low. Trotzdem macht Vanessa weiter. Mit Erfolg. Roderick, selbst unterschenkelamputiert und Medaillengewinner bei den Paralympics in Sydney, hilft ihr, schneller zu laufen und weiter zu springen. Sie stellt mit 4,79 Meter einen neuen Weltrekord auf. "Was ich brauchte war jemand, der mich mental stark macht. Amerika war dafür der richtige Schritt. Ich habe lernen müssen, alleine klarzukommen - ohne Familie. Ich bin selbstständiger, toleranter und stärker geworden", sagt Low. "Von Anfang an war das Vertrauen zwischen Trainer und Athletin vorhanden. Das macht uns so erfolgreich."

Abgesehen davon erlebt Low eine Gesellschaft, die anders mit behinderten Menschen umgeht. "Wenn ich durch den Supermarkt laufe, denken die Leute, dass ich beim Militär bin. Die verneigen sich vor einem."

Das Gefühl wie es ist, Beine zu haben, kennt sie nicht mehr. "Vom Kopf her könnte ich noch ansteuern, den kleinen Zeh zu bewegen, aber wenn ich mit zwei gesunden Beinen aufwachen würde, müsste ich wieder neu Gehen lernen."

Low lebt von der Förderung der Deutschen Sporthilfe und der Unterstützung ihres Vereins sowie einzelner Sponsoren. "Reich wird man davon nicht, aber ich kann meinen Leistungssport damit finanzieren", sagt sie. In Rio möchte sie nun die Früchte ihrer Arbeit ernten. Nach der Enttäuschung in London vor vier Jahren will Low ihre Entwicklung und Leistungsfähigkeit endlich in einem ganz großen Wettkampf bestätigen. "Mein Ziel ist es, Bestleistung zu bringen. Ich hoffe, dass es dann für eine Medaille reicht."

Bis zu den Paralympics bleibt sie in Deutschland. Sie ist wieder bei ihren Eltern eingezogen. "Ich hatte erst so meine Bedenken, ob das noch funktioniert. Aber der Kühlschrank ist immer voll und die Wäsche gewaschen", frotzelt sie. Tatsächlich kann sie in ihrem familiären Umfeld Kraft tanken.

Stolz erzählt sie in dem Zusammenhang von ihren neuen Prothesen-Covern. In London trug sie die Flagge Großbritanniens auf den Metall-Unterschenkeln. Für Rio habe sie sich mit einer Firma aus Kanada etwas Neues überlegt. Das Aussehen ist ihr wichtig. "Ich bin ein Mensch wie jeder andere. Es gehört zu einem guten Körpergefühl dazu, dass man schön aussieht", sagt sie.

Nach den Paralympics will sie zu ihrem Freund, dem einseitig unterschenkelamputierten Sprinter Scott Reardon, nach Australien ziehen. Wie es dann mit ihrer sportlichen Karriere weitergeht, weiß sie noch nicht. "Ich werde mir über meine Ziele nach Rio Gedanken machen. Es gibt so vieles, was ich machen möchte und noch vorhabe."

Bei Vanessa Low darf man sich dessen sicher sein.

(RP)
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