Lokalsport "Du musst ein Sadist sein"

Leverkusen · 2007 hatte David Behre einen Unfall, bei dem er beide Unterschenkel verlor. Heute ist der 29-jährige Leverkusener ein erfolgreicher Leistungssportler. Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Doha läuft er ab heute um Medaillen.

Lokalsport: "Du musst ein Sadist sein"
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Wenn David Behre seine Geschichte erzählt, ist es still. Schon das Fallen einer Stecknadel wirkt störend. Er spricht eindringlich - und doch so, dass er anderen Mut macht. Zuletzt beeindruckte er Mitte Juli im ZDF bei Markus Lanz. Und selbst Bergsteiger-Legende Reinhold Messner hielt den Atem an. Es war im September 2007, als David Behre auf dem Heimweg an einem Bahnübergang einen Unfall hatte - bei dem er beide Unterschenkel verlor. David wird von einem Güterzug erfasst und überlebt wie durch ein Wunder. Das Drama hat er in einem Buch verarbeitet: "Sprint zurück ins Leben". Es gibt keine Resignation, keine Verbitterung, keine Verzweiflung.

Im Gegenteil: Heute ist der 29-Jährige, der in Moers aufgewachsen ist und nun in Leverkusen lebt, ein erfolgreicher Leistungssportler. Bei den Behinderten ist er Weltklasse - und auf dem Weg zu zwei Ereignissen, die Höhepunkte in seiner Karriere werden sollen. Zurzeit weilt er bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Doha.

Heute startet er erstmals über 200 Meter. So wichtig die WM im Scheichtum Katar auch ist, über allem stehen für ihn die Paralym- pics 2016 in Rio de Janeiro in. "Ich bin bereit, und ich bin heiß darauf, dass es losgeht", sagt David Behre, der vor kurzem mit der Nationalmannschaft ein Trainingslager auf Lanzarote absolvierte: "Wir hatten dort bei 30 bis 35 Grad traumhafte Bedingungen." Der Club La Santa auf der Kanareninsel sei mit allem ausgestattet, was sich der Leistungssportler wünscht. "Es ist alles nach Plan gelaufen", betont der 29-Jährige. Die bestmögliche Verfassung wird er auch brauchen, um sein Programm zu bewältigen. Schließlich startet Behre über 100 Meter, 200 Meter, 400 Meter und mit der deutschen Staffel über 4x100 Meter.

Den letzten Schliff holt er sich unter der Regie seines Trainers Karl-Heinz Düe auf der Anlage seines Vereins TSV Bayer Leverkusen. Dort treffen sich beide zweimal täglich. Und weil besondere Ereignisse besondere Maßnahmen erfordern, kommt schon mal ein Samstagmorgen hinzu.

Die herbstliche Sonne scheint und macht es für Zuschauer angenehm. Aber bei 13 Grad es ist eben kein Sprinterwetter. "Viel zu kalt", sagt Behre. Trotzdem macht er sich unverzüglich auf den Weg zurück zu seinen Sachen, um für ein paar Minuten eine warme Jacke überzustreifen und dann wieder an den Startpunkt zu gehen - für den nächsten Tempolauf, den ihm die Leichtathletik-Trainerlegende Düe verordnet hat. "Ich habe zu ihm ein väterliches Verhältnis", sagt der Sportler. Düe bestätigt das. Und weil das so ist, kennt er seinen Schützling in- und auswendig: "Wir sprechen sehr offen miteinander. Und wir haben beide unsere Ei- genarten." Manches bleibt geheim, weil das bei gegenseiti- gem Vertrauen so üblich ist. Eine Macke lässt er sich trotzdem entlocken: "David ist immer unpünktlich." Wenn beide für 10 Uhr zu einer Trainingseinheit verabredet sind, pflegt sich der Sprinter zu verspäten - immer um zehn Minuten. "Darauf kann man sich dann aber verlassen", sagt Düe, der vor Behres Entwicklung allerhöchsten Respekt hat: "Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schnell auf zwei Prothesen zurechtgekommen ist." Und er bescheinigt Behre im selben Atemzug die Fähigkeit, an die körperlichen Grenzen zu gehen - gerade über die 400 Meter, die er für Behres Paradestrecke mit den größten Erfolgsaussichten bei bei WM und Paralympics hält. "Die 400 Meter sind eine äußerst schwierige Strecke", erklärt Düe, "um diese Strecke zu laufen, musst du ein Sadist sein. David kann das."

Kurz nach seinem Unfall sah Behre eine Doku über den als "Blade Runner" bezeichneten Südafrikaner Oscar Pistorius. Es ist der Beginn einer Wende für Behre, der sich nicht nur ins Leben zurück kämpft, sondern auch eine große sportliche Karriere startet. Im Oktober 2008 wechselte er vom Niederrhein zum TSV Bayer Leverkusen. Dort begann unter Düe sein Aufstieg in die Weltelite der Behinderten-Sportler.

"Oscar hat mich inspiriert", sagt Behre, "ohne ihn wäre ich nicht zur Leichtathletik gekommen." Mehr Motivation brauchte ihm der Südafrikaner aber nicht zu geben, denn bei Behre kommt sie von innen heraus: "Ich liebe es, an meine Grenzen zu gehen." Dennoch sehnt er eine Erholungspause herbei. Aber die muss bis nach den Weltmeisterschaften warten.

Bis dahin liegt der Fokus auf Doha, denn im Schongang lässt sich Edelmetall bei großen nationalen Titelkämpfen längst nicht mehr gewinnen. "Unser Sport ist gerade dabei, sich weltweit zu professionalisieren", weiß David Behre, der sich der Konkurrenz gerne stellt - und doch auf der Bahn oft verkrampft. "Er ist im Training oft fast so gut wie im Wettkampf", sagt Düe, "das kann eigentlich nicht sein. Ich glaube, er macht sich zu viel Druck."

Seinen Traum vom ganz großen Erfolg auf der Weltbühne des Sports lebt der Sprinter intensiv weiter - erst in Doha, ein paar Monate später in Rio. "Jeder Sportler braucht Träume", bestätigt Düe, "das ist es doch, was ihn antreibt. Wenn er eine Medaille gewinnt, wäre das großartig."

Die Geschichte von David Behre ist aber schon jetzt großartig. Und wenn er sie erzählt, ist es still. Dann wäre selbst das Fallen einer Stecknadel störend.

(RP)
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