Meerbusch Familiendrama schockiert eine ganze Stadt

Meerbusch · Der 17-Jährige, der in Meerbusch seine Mutter getötet haben soll, schweigt zu den Vorwürfen. Gegen ihn wurde am Montag Haftbefehl wegen Totschlags erlassen. Und die Meerbuscher fragen sich: Wie konnte es so weit kommen?

Ob beim Bäcker, in der Kita oder an der Arbeitsstelle: In der 55.000-Einwohner-Stadt Meerbusch gibt es nur ein Gesprächsthema: "Hast du das von dem Familiendrama in Lank gehört?" In dem Ortsteil im Norden Meerbuschs ist eine vierfache Mutter in der Nacht zu Sonntag mit mehreren Messerstichen getötet worden. Die Polizei hat den ältesten Sohn der 41-Jährigen verhaftet. Der 17-Jährige habe sich nicht zu dem Tatvorwurf geäußert, sagt Staatsanwalt Matthias Ridder. Doch die Beweise sind erdrückend, der Haftrichter hat gestern Haftbefehl erlassen.

Wie die Tat abgelaufen ist, scheint für die Polizei und Staatsanwaltschaft nachvollziehbar. Die Frage nach dem Warum, die sich auch Nachbarn, Freunde und Bekannte stellen, lässt sich nicht so leicht beantworten. "Niemand wird über Nacht zum Mörder", sagt der Essener Psychologe Christian Lüdke. "Solch eine Tat ist meist der Abschluss einer langen gestörten Persönlichkeitsentwicklung." Er vermutet bei dem 17-Jährigen viel aufgestaute Wut. Anders sei die Art des Angriffs nicht zu erklären, denn wer jemanden ersteche, müsse auch rein physisch eine unsichtbare Grenze überwinden und sehr nah an die andere Person rangehen.

Sie war aus Liberia geflüchtet

Nach Meerbusch kam Helina B., weil sie dem Töten entkommen wollte. Sie stammte aus Liberia, im siebten Jahr des Bürgerkriegs flüchtete sie nach Deutschland. Damals war sie mit ihrem ältesten Sohn schwanger. Helina B. sprach schnell fließend Deutsch, lernte viel über das neue Land, in dem sie nun lebte.

Sie wollte gern die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen. Im 10.000-Einwohner-Stadtteil Lank, wo Menschen mit dunkler Hautfarbe selten sind, reichten ihr viele die Hand. Jedes ihrer vier Kinder hat einen Paten: Menschen, die sich kümmern. Ihr ältester Sohn wurde Messdiener, sammelte als Sternsinger Spenden. Und Helina B. erreichte ihr Ziel, integriert zu werden: 2005 nahm sie den deutschen Pass aus der Hand von Bürgermeister Dieter Spindler entgegen.

Mit der evangelischen Kirchengemeinde fuhr ihr ältester Junge auf Ferienfreizeiten nach Dänemark. Da zog er zum ersten Mal die Aufmerksamkeit auf sich. "Weil er so gut singen und tanzen konnte", sagt Pfarrer Wilfried Pahlke. Bestürzt sind er und sein Team, denn Helina B. arbeitete seit acht Jahren bei der Diakonie als Pflegehilfskraft. "Sie hatte für jeden ein freundliches Wort, war sehr beliebt."

Die falschen Freunde

Berufstätig, vier Kinder — Helina B. hat ihr Leben gemeistert. Sie bekam auch Hilfe: Die Lehrer kümmerten sich sehr um den Jungen, als er aufs Gymnasium kam. "Bei Schulfeiern sorgte er mit Schlagzeugsoli für Aufsehen", erinnern sich Lehrer. Schulleiter Christian Gutjahr-Dölls ist geschockt. "Dass so etwas geschehen würde, damit hat niemand gerechnet."

Laut Christian Lüdke ist die Tat die primitivste Art der Konfliktbewältigung. "Womöglich hat er sich verraten gefühlt und nicht als Person wahrgenommen." Allerdings muss es Signale gegeben haben, die der Jugendliche ausgesendet hat. Sie wurden nicht bemerkt — vielleicht, weil sie nicht ins Bild passten. Die Wissenschaft nennt das "Verantwortungsdiffusion". Viele sehen etwas, verlassen sich auf andere und ziehen nicht die richtigen Schlüsse. Es braucht Mut, diese Beobachtungen anzusprechen", weiß Lüdke.

Vor gut zwei Jahren verließ der heute 17-Jährige das Gymnasium. "Er tauchte immer mal wieder ab", sagt ein ehemaliger Mitschüler. "Manchmal wusste auch seine Mutter nicht, wo er sich aufhielt." Ihr Sohn hatte die falschen Freunde gefunden, war mit Drogen in Berührung gekommen. Der Schüler soll auch gestohlen haben.

Das Jugendamt kümmerte sich, brachte ihn in einer Einrichtung unter. Der Jugendliche nahm Nachhilfe, um doch noch das Abitur zu machen. Dann nahm er wieder Drogen. Waren sie der Grund für die Tat? Schon vor drei Wochen hatte er seine Mutter angegriffen und dabei leicht verletzt. Erst kurz zuvor war er aus einer Gruppeneinrichtung nach Hause zurückgekehrt. Für die Attacke verhängte die Polizei ein zehntägiges Hausverbot. Daran hielt er sich nicht. Einen erneuten Heimaufenthalt soll seine Mutter abgelehnt haben.

(csi)
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