Mensch Gladbach Aus "MG+" darf nicht "MG 08/15" werden

Mönchengladbach · Gladbach hat sich in diesem Jahrtausend vom schwierigen Kind zum respektablen jungen Erwachsenen gemausert. Doch wie geht es weiter?

Mensch Gladbach: Aus "MG+" darf nicht "MG 08/15" werden
Foto: Theo Titz

Wissen Sie eigentlich, woher der Ausdruck "08/15" stammt? Er geht auf ein Standard-Maschinengewehr aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zurück. Der vollständige Ausdruck lautet also eigentlich "MG 08/15"... Aber davon später mehr.

Kürzlich musste ich wegen eines Pakets zur Post. Ich fuhr gegen 14 Uhr hin, in der Erwartung, die Mittagspause sei dann sicherlich vorbei. Pustekuchen - sie geht von 13 bis 15 Uhr. Ich vertrat mir die Beine, war um 15.02 Uhr wieder da - und fand mich am Ende einer 50-Meter-Schlange wieder. Bis ich drankam, vergingen weitere 25 Minuten. Vor mir klagte unterdessen eine ältere Dame ihr Leid: Weil in ihrem Stadtteil die Post zumachte, muss sie nun zweimal umsteigen und braucht mit dem Bus eine halbe Stunde. "Hier versorgen jetzt zwei Post-Mitarbeiter fünf Stadtteile?", fragte sie ungläubig. "Und da baut man nebenan noch Wohnraum für 20.000 weitere Menschen? Wie soll das gehen?"

Diese Geschichte trug sich in Düsseldorf zu. Dort wohne ich, grob gesagt, seit Beginn des Jahrtausends, und die Hälfte dieser Zeit habe ich, ebenso grob gesagt, arbeitstechnisch in Gladbach verbracht. Die Entwicklung beider Städte habe ich also eng verfolgt. Und kann dementsprechend sagen: Man muss als Mönchengladbach, jetzt, da es in diesem Jahrtausend volljährig wird, nicht alles, was Düsseldorf als wachsende Stadt seither so veranstaltet hat, eins zu eins auch wiederholen.

Anders als noch 2000 steht man in der Landeshauptstadt gefühlt zu jeder Tages- und Nachzeit im Stau: auf den Straßen wie an den Kassen. Die Infrastruktur der Stadtgesellschaft hat mit dem Wachstum an Köpfen schlichtweg nicht überall schrittgehalten. Neubaugebiete wirken oft austauschbar, wenn sie denn überhaupt bezogen werden: Im Stadtteil Gerresheim gibt es eines, in dem 20 schmucke Einfamilienhäuser und etliche Mietwohnungen seit Monaten immer noch leerstehen. Sie erweisen sich, selbst im reichen Düsseldorf, als zu teuer. Nicht nur die Dame bei der Post fühlt sich von solchen Entwicklungen abgehängt.

Lässt man dagegen Gladbachs Entwicklung in diesem Jahrtausend bis zur Volljährigkeit Revue passieren, muss man sagen: Ein Kind aus schwierigen Verhältnissen, mit mancher Schwäche versehen und mancher Lücke im Lebenslauf, hat sich aus einer unrunden Pubertät zum respektablen jungen Erwachsenen gemausert. Und wächst und gedeiht: Auf dem Pulli steht "MG +".

Erst darunter im Kleingedruckten jedoch folgt "Wachstum in Qualität". Genau darauf sollte nun aber das Hauptaugenmerk liegen - denn Wachstum nur um des Wachsens willen kann ja kaum der Weisheit letzter Schluss sein. Für Gladbach sollte es ab sofort darum gehen, kein x-beliebiger, stromlinienförmiger, austauschbarer junger Erwachsener zu werden, mit den gleichen Geschäften, Gebäuden, Ansichten und Herangehensweisen wie überall. Es sollte vielmehr darum gehen, vermeintliche Schwächen in Stärken umzumünzen, aus Nöten identitätsstiftende Tugenden zu machen, die Stadt individuell und unverwechselbar zukunftsfit zu machen.

Vieles lässt sich nicht beeinflussen - etwa ob die Post Filialen zumacht oder ein Weltkonzern profitable Trafowerke. Doch ein Klima, das lässt sich schaffen: ein innovationsfreudiges, pulsierendes - etwa in der Rolle als Vorreiter der Digitalisierung, die idealerweise auch der Dame aus der Post-Schlange Mehrwerte aufzeigt und auch denjenigen tragfähige Lösungen bietet, die (noch) damit fremdeln. Eines, in dem alle in der Stadt gleichermaßen vom Wachstum profitieren; eines, in dem die Schließung des profitablen Trafowerks doch noch irgendwie verhindert werden kann - und vielleicht sogar die Post noch eine dritte Schlange aufmacht.

Gladbachs Charme liegt auch in seinen Brüchen. Im Leerstand, den man cleverer nutzen kann, in der alten Bausubstanz, die man noch besser in Neues integrieren kann, in den zwei irgendwie verrückten, aber grundsympathischen Herzen in seiner Brust. Andernfalls droht die Gefahr, dass statt "MG +" irgendwann besagtes "MG 08/15" den Pulli ziert. In diesem Sinne: Guten Rutsch!

(RP)
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