Serie Gladbacher Lesebuch (10) Bei Fräulein Kamradek begann die Schulzeit

Mönchengladbach · Der Autor besuchte in den 1950er Jahren die Alsschule. Er erinnert sich an St. Martin, Panzerwagen, Theaterstücke und das Leben in der Klasse.

 Anfangs wurden Jungen und Mädchen in der Alsschule gemeinsam unterrichtet.

Anfangs wurden Jungen und Mädchen in der Alsschule gemeinsam unterrichtet.

Foto: Heinz-Georg Lindgens

Eicken Im April 1952 war es so weit. Ich war mir der Wichtigkeit des Tages bewusst, als ich, begleitet von meiner Mutter, zu Fuß den Weg über die Krefelder Straße, die untere Hindenburgstraße, die abbiegende Bozener Straße zur "Katholischen Volksschule Alsstraße" antrat. Mein Onkel Heinz hatte mir bei Leder Kremer an der Eickener Straße einen Ledertornister für 80 D-Mark spendiert. Ich erinnere mich noch an die neuen, schönen hellbraunen Halbschuhe in Größe 28 von Ermert an der Hindenburgstraße und die weißen Kniestrümpfe. Die große blau-goldene Schultüte war vollgestopft mit Apfelsinen, Bananen, Schokolade und anderen Süßigkeiten. Ich selbst sah in der Einschulung ziemlich selbstbewusst einen entscheidenden Schritt zu mehr Anerkennung in der Erwachsenenwelt.

 Heinz-Georg Lindgens im Jahr 1959.

Heinz-Georg Lindgens im Jahr 1959.

Foto: Heinz-Georg Lindgens

Ich wurde im September 1945 geboren und war bereits sechseinhalb Jahre alt. Wir Erstklässler wurden, nachdem die Eltern das Klassenzimmer verlassen hatten, von der Lehrerin, Fräulein Maria Kamradek, begrüßt. Dann wurden uns unsere Sitzplätze in den Schulbänken zugewiesen. In unserer Klasse waren etwa 54 Schüler, von denen einige im Kriege oder der unmittelbaren Nachkriegszeit einen oder gar beide Elternteile oder die Heimat durch Flucht oder Vertreibung verloren hatten, und die demzufolge nun bei Verwandten lebten. Die Jungen saßen von den Mädchen getrennt. Ich war der Kleinste in der Klasse und wurde somit in der vorderen Bank neben Helmut Peters, dem Sohn eines an der Alsschule tätigen Lehrers, platziert. An die nunmehr auch für mich geltende neue "Geschäftsordnung" im Klassenverbund gewöhnte ich mich erst nach einiger Zeit. Im Unterricht war ich von der ersten Stunde an voll dabei, "posaunte" aber meine Gedankengänge in der ersten Zeit sofort heraus. In den Schulpausen wurde ich von einer Schülerin aus der Oberklasse, die bei uns im Hause wohnte, sehr "mütterlich" betreut.

Ich erinnere mich aus den Anfängen meiner Schulzeit noch an folgende Begebenheit: Der Religionsunterricht wurde mit farblichen Ansichten aus der biblischen Geschichte unterstützt. Diese etwa 120 mal 60 Zentimeter großen Bilder wurden im Utensilienraum auf der ersten Etage oberhalb des Eingangs in einer Truhe aufbewahrt. In diesem Zimmer befand sich außerdem ein Klavier. In der Ecke standen mehrere große zusammengerollte Landkarten und die dazugehörigen Kartenständer. Auf der Truhe lagen zwei Geigen.

Irgendwann während der ersten beiden Schuljahre studierte Fräulein Kamradek mit uns ein Theaterstück ein. Auch ich sollte in diesem Stück, das ich auswendig gelernt hatte, eine kleinere Rolle spielen, benahm mich aber bei den Proben undiszipliniert, so dass ich aus der "Besetzung" gestrichen wurde. Für besondere Anstrengungen verteilte diese verdiente Pädagogin "Fleißkärtchen", die aus einem Stück weißem Papier bestanden, auf dem sie ihren Stempel gedrückt hatte. Hatte man zehn Kärtchen beisammen, konnte man sie gegen ein Heiligenbildchen eintauschen.

Wegen der damals enorm hohen Schülerzahl reichten die Klassenräume, es waren deren in jeder Etage vier, nicht ganz aus. Es war erforderlich, eine Klasse zum Unterricht erst am Nachmittag erscheinen zu lassen. Dies geschah zunächst klassenweise reihum. Ich habe das als angenehm empfunden, war man doch für diesen Tag von den sonst üblichen Hausaufgaben befreit. Zudem hatte eine einzige Klasse in den Pausen den Schulhof für sich. Nach der Pause musste die am seitlichen Giebel angebrachte Schulglocke bei Wiederbeginn des Unterrichts mittels einer langen Stange betätigt werden. Es war sehr schön, wenn man die Klasse aufgrund der durch die eigene Person betätigten Glocke in Reih und Glied antreten sah. Dies bestätigte einem die eigene "Wichtigkeit".

Zu St. Martin kam der heilige Mann auf einem Schimmel in der Uniform eines römischen Soldaten zum Martinsfeuer auf den Schulhof geritten, um seinen Mantel mit dem Bettler zu teilen. Anschließend wurden in den Klassenräumen die Martinstüten, mit Weckmann, Äpfeln, Nüssen, Plätzchen und Süßigkeiten gefüllt, an die Schüler verteilt. Meine Hausnachbarin, die Schülerin aus der Oberklasse, hatte mir zu einem dieser Martinsumzüge eine schöne Fackel mit Scherenschnitt-Bildern nach Vorlagen aus einem Märchenbuch gebastelt, für die ich auch noch einen Preis bekam.

Am Krönungstag von Elizabeth II. von England, dem 2. Juni 1953, erkrankte ich an Masern und musste drei Wochen lang in einem verdunkelten Raum das Bett hüten. Für unsere Gesundheit wurde dahingehend vorbeugend von staatlicher Seite gesorgt, dass wir dem Schulzahnarzt vorgestellt und auch in einem fahrbaren Bus zur "Röntgenschirmbilduntersuchung" zur Überprüfung der einwandfreien Lungenfunktion gebeten wurden. Nach Schulschluss nahmen wir unseren Heimweg über die Wattstraße und spielten dort in den abgestellten Bussen und Anhängern. Gelegentlich spielten wir auch auf dem vor dem Bahnbetriebswerk an der Kranzstraße/Neusser Straße gelegenen Gelände. Hier waren die Waggons der Fernzüge abgestellt. In den Abteilen der Waggons waren Bilder von Schloss Sanssouci und dem Dresdner Zwinger zu sehen.

Die Klassenlehrerin wollte einmal in Erfahrung bringen, in welchem baulichen Umfeld ihre Klassenkinder so leben. Also zog sie mit uns durch das gesamte Einzugsgebiet der Alsschule und lieferte ihre Schutzbefohlenen an den Haustüren ab. Auch ich war an den wohnlichen Gegebenheiten meiner Mitschüler interessiert und wollte den "Zug durch die Gemeinde" auch noch begleiten, nachdem wir an der Krefelder Straße vor dem Haus Nummer 87 angelangt waren. Dies wurde sehr unwillig aufgenommen und ich "von der Straße verwiesen".

Einmal besuchten wir mit der Klasse das Gelände am "Kalkopf". Direkt neben diesem, aus Schutt, Abraum und Hausabfällen aufgeschütteten "Berg", hatten die englischen Besatzungsbehörden ein Übungsgelände für ihre Militärfahrzeuge requiriert. Wir Jungen fanden die vorbeirauschenden Panzerspähwagen sehr aufregend und kamen der Einladung zu einer Mitfahrgelegenheit durch die freundlichen "Besatzer" gerne nach. Fräulein Kamradek schwitzte derweil "Blut und Wasser", bis die Soldaten uns wohlbehalten wieder aussteigen ließen.

(RP)
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