Serie Denkanstoss Die Sache mit dem "Wir"

Mönchengladbach · Martina Wasserloos-Strunk warnt in ihrem Beitrag davor, Vereinnahmern und In-einen-Topf-Werfern die Deutungshoheit über unsere Werte zu überlassen.

Neulich war es mal wieder soweit. Da sagt mir ein Pfarrer im Erntedankgottesdienst doch tatsächlich: "Wir wissen ja gar nicht mehr, woher eigentlich die Äpfel kommen, die wir bei Lidl kaufen!"

Also - mir sträuben sich bei sowas die Nackenhaare. Nicht nur, dass ich mich jedes Jahr darüber freue, dass die Apfelbäume in meinem Garten wunderbare Früchte tragen, nein - ich will auch nicht so blöd vereinnahmt werden. Gottesdienste sind da gerne mal der Ort für Entgleisungen. "Wir wissen ja gar nicht mehr, um was es an Pfingsten geht!" oder "Die meisten von uns kommen ja nur noch Weihnachten in den Gottesdienst." Dann sitzt man da in seiner Bank und kann sich nicht wehren - während man einfach unter ein diffuses "Wir" subsumiert wird. Publikumsbeschimpfung hat das mal ein Theologe genannt.

Ich glaube, dass diese Vereinnahmer und In-einen-Topf-Werfer im Grunde nicht WIR meinen, sondern ICH. Und da haben wir noch nicht darüber gesprochen, dass im WIR ein seltsam klebriger Anspruch auf schlammwarme Gemeinschaft deutlich wird. Wenn bestimmte Parteien jetzt in Deutschland ein neues "Wir-Gefühl" einfordern - möglichst in Abgrenzung von "den anderen", dann heißt es wachsam werden. Wie sehr ein gutes, revolutionäres, selbstbewusstes "Wir" missbraucht werden kann, sehen wir im Satz "Wir sind das Volk". Das rufen inzwischen nicht mehr die, die für die Freiheit auf die Straße gehen, sondern, die die sich für Hetze und Gewalt auf die Straße schicken lassen. Denn auch hier stellt sich die Frage, wer dieses "Wir" eigentlich ist. Und wenn da plötzlich Verteidiger des christlichen Abendlandes ein "WIR" postulieren, das es erstens so nie gegeben hat und das wir zweitens auch gar nicht wollen sollten, dann ist es höchste Zeit auszusteigen.

Ja, richtig - das schreibe ich ganz bewusst: Dieses "Wir" können wir nicht wollen! Denn dann sind wir nicht mehr weit entfernt von "Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich Dir den Schädel ein!". Vielleicht so, wie in der Filmszene des genialen "Leben des Brian". "Wir sind alle Individuen" ruft die verdrehte Menge - bis auf einen: "Ich nicht!", tönt es aus der Mitte. Mein Opa, der Erfahrung hatte mit allen möglichen Gestalten von "Wir" - zum Beispiel in der braunen Volksgemeinschaft - hat mir in seinen späten Jahren mehr als einmal gesagt: "Wenn zu dir mal einer sagt: 'Alle stehen auf - auch WIR', dann bleib bloß sitzen und denk gründlich nach!"

Vorsicht also, wenn andere sagen, was "Wir" wissen und fühlen, was uns wichtig ist, und wofür "Wir" stehen. Die Deutungshoheit über unser Land, unsere Gemeinschaft und unsere Werte sollten wir nicht aus der Hand geben! Wir? Ja! Wir!

MARTINA WASSERLOOS-STRUNK IST LEITERIN DER PHILIPPUS-AKADEMIE DES EVANGELISCHEN KIRCHENKREISES.

(RP)
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