Dieter Nuhr Dieter Nuhr: "Die Deutschen müssen mal sehen, wie es woanders ist"

Mönchengladbach · Dieter Nuhr stellt in Gladbach seine Fotos aus. Ein Interview über Wikipedia, Humboldt, Ordnung, Uli Hoeneß und Nordkorea.

 Dieter Nuhr inmitten seiner Fotos.

Dieter Nuhr inmitten seiner Fotos.

Foto: Ilgner, Detlef

Sie haben an der Folkwangschule Bildende Kunst studiert und haben viele Jahre als Künstler gearbeitet, bevor Sie als Kabarettist auf die Bühne gegangen sind. Nervt es Sie, wenn in Wikipedia zu lesen ist: "Nebenbei fotografiert Nuhr und stellt seine Fotokunst in Galerien und Museen aus."

Dieter Nuhr Nein, da bin ich gelassen. Ich will niemandem übel nehmen, wenn ich als Kabarettist wahrgenommen werde. Ich will ja, dass die Menschen kommen, wenn ich spiele; davon lebe ich. Ich weiß, dass mir alle Arten des Ausdrucks — Bilder, Schreiben, Bühne — gleich wichtig sind und ich sie auch mit der selben Intensität betreibe. Ich habe aber nicht den Anspruch, dass das jeder wissen muss. Und zu Wikipedia: Da stand lange Zeit der Name meiner Tochter falsch geschrieben. Ich habe dann versucht es zu ändern. Ein paar Minuten später hat es dann aber jemand anders zurückgeändert. Dabei war ich mir in dieser Frage so sicher wie in keiner anderen, Experte zu sein.

Die Welt, die Sie auf Ihren Fotos zeigen, ist sehr geordnet. Es gibt klare Linien, Farbflächen. Und keine Menschen.

Nuhr (wandert durch die Ausstellung) Gucken Sie mal hier, in dem Teppichgeschäft sitzt jemand. Und da hinten rechts, der ist gerade eingeschlafen. Menschen stehen nicht im Mittelpunkt meiner Bilder. Vielleicht, weil sie die Ordnung stören. Ich zeige die Spuren der Menschen. Stromkästen. Zäune. Gitter. Häuser. Ich zeige das wegen der Formen, Linien und Farben. Aber natürlich stehen die Dinge beispielhaft für etwas. Oft für das Bemühen der Menschen, sich in der Welt einzurichten.

Ihre Bilder sind fast wie ein Atlas. Hier in der Galerie haben Sie sie auch noch grob nach Ländern sortiert. Wollen Sie den Menschen zeigen, wie die Welt ist?

Nuhr Diesen Gedanken, Ausschnitte der Welt zu zeigen, zu kategorisieren, so wie Humboldt das gemacht hat, finde ich schön. Mein Bestreben ist es tatsächlich, die Welt zu zeigen, wie sie ist. Ohne kritischen, sozialromantischen oder irgendeinen anderen Anspruch. So ist sie halt.

Ist das der Grund, warum die Perspektive immer die frontale ist?

Nuhr Wahrscheinlich ist das so. Ich stelle die Dinge auf eine Bühne und gucke aus dem Zuschauerraum.

Sie reisen immens viel - und zwar oft in Länder wie den Iran, Jemen, Botswana, Nordkorea. Warum zieht es Sie gerade dorthin?

Nuhr Das ist der Unterschied zwischen einer Reise und Urlaub. Ich fahre ja nicht dorthin, um mich in den Liegestuhl zu setzen und an den Strand zu legen, sondern um zu arbeiten, um Dinge zu entdecken und festzuhalten. In Ländern, in die viele Menschen von außerhalb kommen, beginnen die Einheimischen sich zu benehmen, wie sie fürchten, dass man es von ihnen erwartet. So entsteht Folklore. Das ist künstlerisch gesehen unbefriedigend.

Waren Sie jemals in einem Land, in dem Sie lieber leben würden als in Deutschland?

Nuhr Ich war in vielen großartigen Ländern. Aber mal ganz abgesehen von so Faktoren wie Heimat und Sprache: Nirgends, außer vielleicht in den skandinavischen Ländern, sind die Dinge so gut geregelt wie bei uns. 50 Prozent des Einkommens werden verteilt. Das ist wunderbar. Es ist sauber. Es funktioniert alles. Man kommt leicht an Essen und Klamotten. Das ist nicht der Normalzustand. Manche sagen, wenn sie meine Fotos sehen: Das sieht aber nicht schön aus, irgendwie verwahrlost. Das finde ich gar nicht. Ich zeige die Dinge, wie sie sind. Den Normalzustand auf unserer Erde. Deutschland ist nicht normal. Der Lebensstandard hier ist immens.

Warum haben die Deutschen trotzdem so schlechte Laune. Wenn man durch eine deutsche Fußgängerzone geht, sieht man wenig Glück.

Nuhr Das stimmt. Ich komme gerade aus Äthopien, das jüngste Bild in der Ausstellung ist von dort und gerade vier Wochen alt. Ich habe selten eine so ausgeprägte Fröhlichkeit, Heiterkeit und auch Hilfsbereitschaft erlebt. Das ist ein sehr christlich geprägtes Land. Als ich zurückkam, hatte gerade ganz Deutschland schlechte Laune, war neidisch und hämisch — weil Uli Hoeneß Steuern hinterzogen hat. Ich habe dazu spontan auf Facebook geschrieben, dass gerade auch noch Mörder und Vergewaltiger verurteilt werden. Da war es schon wieder kurz vor einem Shitstorm. Ich bin für Reisezwang. Vielen Deutschen sind die Dankbarkeit und die Freude abhanden gekommen. Die Deutschen müssen mal raus, um zu sehen, wie es woanders ist.

So gründlich wie Sie werden das die wenigsten schaffen. Wissen Sie, in wie vielen Ländern Sie schon waren?

Nuhr Ja, das weiß ich tatsächlich, weil ich in Vorbereitung der Ausstellung noch mal viele Bilder durchgesehen und dabei gezählt habe. Es sind 67.

Gucken Sie sich Ihre älteren Bilder regelmäßig an?

Nuhr Ja. Die Sachen sind gut geordnet, so dass ich leicht Zugriff darauf habe. Ich bin Beamtensohn. Ich mag die Ordnung in den Dingen. Auch mein Jahr hat eine Ordnung, die sich aus der Arbeit heraus ergibt. In viele Länder kann man während der Regenzeit nicht fahren. Und während einer Fußball-WM in großen Hallen mit einem Bühnenprogramm aufzutreten, ist auch keine gute Idee. Also bin ich auf Tournee zwischen November und März und reise dreimal im Jahr: im Februar, April und Oktober.

Diese Details, die Sie abbilden, die verrosteten Stromkästen, eine verbeulte Wasserkanne, ein schrilles Werbeplakat in einem Häuserblock — springen Ihnen diese Dinge ins Auge? Wissen Sie sofort: Das ist ein Bild? Oder sehen Sie das manchmal erst im Nachhinein, beim Auswerten daheim?

Nuhr Das sehe ich sofort. Und ich sehe auch das Format dazu, quadratisch oder quer. Ich mache gar nicht so viele Bilder. Ich sitze also nicht zu Hause und werte Tausende von Bildern aus.

Gibt es auch Reisen, die sich nicht gelohnt haben?

Nuhr Nur eine war wirklich überflüssig: Nordkorea. Da hatte ich einen Aufpasser, der ungelogen zehn Zentimeter neben mir stand, und zwar rund um die Uhr. Die Asiaten haben ein anderes Gefühl für Distanz. Ich bin fast verrückt geworden, habe ihn tatsächlich, instinktiv, wie im Reflex, ein paar Mal mit den Ellenbogen weggeschlagen, weil ich es nicht ertragen habe. Einmal bin ich um 6 Uhr aufgestanden und habe mich aus dem Hotel geschlichen. Zehn Sekunden später stand er neben mir. Er hat bestimmt, in welche Richtung ich fotografieren durfte: ein Albtraum.

In welchen Ländern fühlen Sie sich wohl, in welchen weniger?

Nuhr Ich mag das Entspannte in buddhistisch geprägten Ländern. In afrikanischen Ländern habe ich mehr Aggressivität erlebt, was ich anstrengend finde.

Viele der Länder, die Sie bereist haben, gelten als gefährlich. Sind Sie mutig?

Nuhr Überhaupt nicht. Ich lebe viel zu gerne, um mein Leben aufs Spiel zu setzen. Die Wahrnehmung, die es hier über das gibt, was in anderen Ländern passiert, entspricht oft nicht der Realität. Indien erlebe ich als ungewöhnlich sicheres Land. Für 1,4 Milliarden Einwohner passiert da sehr wenig. Auch im Jemen haben wir uns gut aufgehoben gefühlt.

Was ist Ihre Handschrift, die man in allen Ausdrucksformen wiedererkennt: der genaue Blick?

Nuhr Ja. Auch das Gefühl für den Bühnenraum. Und die Freude daran Kleines aufzublasen, bis es ganz groß wird und aus Großem die Luft herauszulassen. Beides führt dazu, die wahre Größe der Dinge besser zu erkennen. Auf der Bühne mache ich das mit Ironie, bei den Fotos durch die Perspektive. Da hat jedes Medium seine Ausdrucksform. Die Haltung aber ist dieselbe.

(RP)
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