Serie Denkanstoss Ein Weihnachtsmärchen

Mönchengladbach · Es war wie immer Mitte Dezember. Eine leichte Unruhe machte sich im Schrank breit. "Bald geht der Wahnsinn wieder los", sinnierte der Nussknacker. "Welcher Wahnsinn?" fragte der kleine Lichterbogen, der es sich während der heißen Sommertage ganz bequem in seiner Ecke gemacht hatte. "Na, dieses Rumgestehe auf dem Schrank." Der Stimme des Nussknackers konnte man schon anmerken, dass das nicht sein Traumjob war. "Da musste alles mit ansehen - ach, wie lieb die sich alle haben... Widerlich!" Den kleinen Lichterbogen schien das alles nicht sonderlich zu kümmern: "Weißt du, ich strahle einfach etwas heller, dann seh' ich das Theater nicht, wenn ich nicht möchte." Zwischenzeitlich raschelte es aus dem Karton mit den kleinen Holzfiguren: "Was spielen wir denn dieses Jahr?", fragte der Hirtenhund, der wie immer ganz oben in der Schachtel lag. "Nuja, Maria, Josef, Kind..." - Sein Hirte fand die Frage irgendwie lästig und überflüssig. "Was wird es denn dieses Jahr?" Der Hund ließ nicht locker. "Ja wie, was wird es dieses Jahr?" Der Hirte wurde ungehalten. "Junge oder Mädchen?" Man konnte das breite Grinsen des Hundes durch das Zeitungspapier, in das er eingewickelt war, hindurch spüren. "Pah - Banause!" - für den Hirten war damit die Fragerei beendet.

Serie Denkanstoss: Ein Weihnachtsmärchen
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Unterdessen machte sich eine Christbaumkugel bemerkbar: "Leute, es wird langsam mal Zeit, wach zu werden und sich vorzubereiten!" Man konnte ihr einen gewissen Eifer nicht absprechen. Ihr silbriger Glanz würde die Menschen wieder begeistern. "Ja, ja, du brauchst doch wieder am längsten, bis du dich auf Hochglanz poliert hast", beschwerte sich der Christbaumständer, der sich aus dem untersten Schrankfach in das Gespräch einschaltete. "Ich steh einfach auf, raus, Baum rein, und gut. Ok, vorher noch ein bisschen Krafttraining, damit der Bursche auch hält und schön gerade steht - aber das wird schon!" "He, da kommt einer...", zischte der Nussknacker von oben. Stille. Die Schranktür öffnete sich - und eine weitere Schachtel wurde senkrecht in das mittlere Fach gestellt. Schranktür zu - wieder Stille.

Nach einer Weile ein leises Wimmern - oder war es ein Kichern? Ratlos lauschten alle in die Stille. "Es ist doch immer dasselbe", meckerte die Christbaumkugel. "Gerade ist Ruhe und Ordnung eingekehrt - da kommt wieder irgendwer dazu und stört das Ganze." Wieder dieses Geräusch. "Seltsam, früher, als ich hier anging, hab ich mich erstmal vorgestellt und einen ausgegeben", raunte der Nussknacker in Richtung des Lichterbogens. "Jaja, die Zeiten ändern sich eben, die jungen Leute haben mit Anstand nichts mehr am Hut", pflichtete der seinem bunten Kollegen bei.

Mittlerweile war auch Josef in der Schachtel mit den Holzfiguren aufgewacht. "Was ist denn da los?", wollte er wissen. Schließlich war es Josef, der in der Krippe immer wieder für Ordnung sorgte. Und weil er das so gut konnte, nahm er diese Aufgabe einfach für den Rest der Belegschaft gleich mit wahr. "Hihi, hier - ich bin neu hier...", kicherte es aus der neuen Schachtel im mittleren Schrankfach. "Darf man fragen, wer du bist und was du machst?" Der Nussknacker wollte es gleich ganz genau wissen. "Hihi", kicherte es wieder zurück, "ich bin eure neue Lichterkette...!" - Stimmt, die alte Lichterkette gab's nicht mehr, sie hatte im letzten Jahr den Geist aufgegeben. "Mann, damals war ich echt traurig": Der Christbaumständer wurde wehmütig. "Wo kommst du her?", fragte Josef aus der Schachtel. "Hihi, direkt aus China." Diesmal schien das Kichern irgendwie in der Stille des Schranks zu ersticken. "Aus China?", fragte der Hirtenhund ungläubig. Sonst um keinen bissigen Kommentar verlegen, fiel ihm nun nichts mehr ein.

"Aha, und du willst hier mitspielen...?" - die Christbaumkugel schüttelte sich. "Wo gibt's denn sowas? Kommt von irgendwo her und will gleich die Hauptrolle haben..." Der Christbaumständer grummelte irgendwas vor sich hin. Josef versuchte, die Ordnung wieder herzustellen, konnte aber auch nicht aus seiner Haut heraus. Stille. Dann ein Wimmern. Wieder aus der neuen Schachtel. "Ich wollt's euch doch nur schön und hell machen, deshalb bin ich um die halbe Welt." Die Lichterkette hatte Mühe, die Fassung zu wahren. "So habe ich das noch gar nicht gesehen", gab Josef sich nachdenklich, der sich geradeletztes Jahr über den viel zu dunklen Krippenstall beschwert hatte.

"Trotzdem - immer schön hinten anstellen, schließlich sind wir schon viel länger im Geschäft!": Die Kugel wollte sich einfach nicht damit anfreunden, dass nun eine neue dabei war. "Nun hab' dich mal nicht so", brummte der Christbaumständer. "Du kannst doch nur glänzen, wenn die Lichterkette einen ordentlichen Job macht! Und den machst du doch, oder?" Der Christbaumständer zwinkerte in den dunklen Schrank hinein in Richtung Kette.

Nur der kleine Lichterbogen hatte sich bis jetzt herausgehalten. "Ich fänd's eigentlich ganz lustig, einen kleinen Lichterwettkampf zu starten..." - "Ehrlich...?", kam es leise aus der neuen Schachtel. "Klar - komm, ich erzähl dir mal, wie's hier so zugeht." Der Lichterbogen lehnte sich zur Lichterkette und begann, sie ins Weihnachtsgeschehen einzuweihen. "Hmm, irgendwie wird die Kleine mir auch sympathisch." Josef nahm wieder Haltung an. "Ok, ihr habt ja recht." Die silberne Christbaumkugel schien plötzlich auch wie ausgewechselt. "Ich muss sehen, dass ich mich weiter poliere - ist ja nicht mehr lang." - "Hihi", kicherte es wieder aus der Schachtel, "ich bin schon ganz aufgeregt!"

Zwischenzeitlich war es der 23. Dezember geworden, als sich die Schranktüren öffneten und alle ihre Plätze im Weihnachtszimmer einnahmen. Wie immer. Nur viel schöner als sonst, weil alle heller strahlten. Schließlich hatten sie eine neue Freundin gefunden - nicht ganz freiwillig, aber jetzt war es so. Und es war gut so.

DER AUTOR IST KATHOLISCHER PFARRER IN JÜCHEN UND REGIONALDEKAN.

(RP)
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