Mönchengladbach Es war eng, es gab Prügel - und eine Chance

Mönchengladbach · Ein großes Lager, Angst und Hoffnung: RP-Karikaturist Nik Ebert erinnert sich, wie er als Spätaussiedler in Rheydt ankam - aus aktuellem Anlass.

Eine Nacht in der Düsseldorfer Flüchtlingsunterkunft
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Eine Nacht in der Düsseldorfer Flüchtlingsunterkunft

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Foto: Bernd Schaller

Menschen, die mit einer Handvoll Habseligkeiten, aber einem Koffer voller Hoffnung auf eine neue Heimat in Mönchengladbach landen. Deren Odyssee zunächst in einer großen Halle endet, die zwar zum Überleben, aber kaum zum Leben taugt. So war es Ende der Fünfziger Jahre, als die Aussiedler kamen. RP-Karikaturist Nik Ebert war einer von ihnen. Seine sehr persönliche Geschichte, wie er als Oberschlesier Niederrheiner wurde, hat er 1996, zum 50-jährigen Bestehen der Rheinischen Post, aufgeschrieben. Wir drucken sie heute in gekürzter Form noch einmal ab. Aus aktuellem Anlass. "Ja aber, war das damals nicht eine ganz andere Situation als heute?", wird mancher fragen. Zu Recht. Und wir antworten genau so zu Recht: Ja aber, geht es am Ende nicht wieder um Menschen, um ihre traumatischen Erlebnisse, ihre Ängste, ihr Anderssein in einem neuen Land, das ihnen eine Chance gibt?

Die Familie meines Vaters bemühte sich seit Kriegsende und bis 1951 um die Ausreise aus Oberschlesien in die Bundesrepublik. Tief verwurzelt in Brauchtum, Sitten und Sippen waren sie Deutsche, die von heute auf morgen keine mehr sein durften. Weder der Staat verstand ein Wort Deutsch, noch der liebe Gott - so jedenfalls ermahnte der polnische Beichtvater seine "Schäfchen", wenn sie Sünden in ihrer Muttersprache bekennen wollten. Der Staat verstand weder ihre Sprache noch Spaß. Wer als deutschsprachig denunziert oder ertappt wurde, durfte zur Strafe die Dorfstraße kehren oder bis zur Hälfte seines kargen Monatslohns bei der Miliz abliefern. Junge Frauen mussten die Exkremente deutscher Kriegsgefangener entsorgen - das waren nicht selten ihre eigenen Ehemänner.

Erst 1958 kam, ultimativ und "aus heiterem Himmel", die schriftliche Aufforderung, das Land innerhalb einer Woche mit Sack und Pack zu verlassen. Meine Schwester und ich, Kleinkinder im Alter von zwei und vier Jahren mit labiler Gesundheit, wurden über Nacht zu Vertriebenen - "Spätaussiedler", wie das freundlichere Wort dafür lautete. Zusammen mit Eltern, den Großeltern und vier Geschwistern meines Vaters, landeten wir per Bahn in Friedland und damit in der "Freiheit". Und dies nicht zuletzt mit Hilfe eines Onkels, der bereits hier war und eine waschechte Rheydterin geheiratet hatte. Ihrer "Bürgschaft" war es zu verdanken, dass meine Familie über die Stationen Friedland und Wentdorf bei Hamburg schließlich hier landete.

Hier erwartete die Vertriebenen eine stillgelegte Fabrikhalle an der Duvenstraße, in der uns ein drei mal drei Meter großer Pappverschlag, oben offen, als Bleibe zugewiesen wurde. Als Verbesserung gegenüber Wentdorf empfanden es die Frauen, hier, im Hallengang, an einer endlosen Reihe zweiflammiger Gaskocher, selber die Mahlzeiten zubereiten zu dürfen. Die Staubflocken, die vom Fabrikdach ins Essen fielen, waren meiner Mutter ein Gräuel und für alle eine Gesundheitsgefährdung. Mäuse und Ratten waren Mitbewohner in der Unterkunft, in der es aufgrund der willkürlich zusammengepuzzelten Bewohnerschaft zwangsläufig zu Spannungen kam, unter denen besonders wir Kinder zu leiden hatten.

Ich erinnere mich schemenhaft an eine Nacht, in der uns unsere Eltern aus dem Gebäude evakuierten, weil in der Nebenhalle die Reisekörbe mit den Habseligkeiten in lichten Flammen standen. Fast ein Jahr verbrachten wir in diesem "Lager" - ein Jahr, in dem mein Vater zweimal wöchentlich fünf Kilometer zu Fuß zum Arbeitsamt ging, um einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung zu haben.

Als wir Kinder unter dem Einfluss der Umstände ernsthaft Schaden zu nehmen drohten, wurde uns auf ärztlichen Druck und Betreiben der Stadt eine Sozialwohnung zugewiesen. Wir erhielten einen "Möbelgutschein" für Betten, einen Tisch und Stühle und wohnten fortan - ärmlich aber zivilisiert - inmitten der Durchschnittsbevölkerung eines niederrheinischen Städtchens. Wir waren "zu Hause" angekommen.

Die Bundesrepublik, zur damaligen Zeit noch im Aufbau begriffen, immer noch unter Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot leidend, stellte sich dem Problem der Ausreise- und Flüchtlingswellen. Menschen, die selber wenig hatten, schickten getragene Kleidung nach Friedland, finanzierten mit ihren Steuergroschen Auffanglager und Verpflegungsküchen und bemühten sich um die Integration der Ankommenden. Dies geschah holprig und unprofessionell. Auch in NRW. Überforderte Staatsdiener fanden nicht immer den richtigen Ton gegenüber den "Habenichtsen von drüben", deren gebrochener Stolz nicht gerade zur besseren Verständigung beitrug. Schließlich waren die allerwenigsten immer schon "Habenichtse" gewesen. Jetzt aber fühlten sie sich entwurzelt - ohne den Rest an Eigentum oder sozialem Umfeld, das sie über den Krieg hinaus hatten retten können. Gedemütigt nahmen sie nun die "Geschenke" entgegen.

Während sie sich als die eigentlichen Kriegsverlierer fühlten, schienen sie andererseits das Wenige zu bedrohen, das sich eine vom Krieg genesende Bundesbevölkerung aufzubauen im Begriff war. Mentalitäten, Brauchtümer und Überzeugungen prallten aufeinander. Dieser Konflikt wurde allerdings in den seltensten Fällen offen ausgetragen. Hier die "Hiesigen", die ihr regionales Selbstbewusstsein gegen Einflüssen von außen abschotteten, da die "Zugereisten", die aus Scham und Verständnislosigkeit dem Neuen gegenüber zusammenrückten, und sich so einem trügerischen "Wir-Gefühl" hingaben. Bemühungen einzelner Einheimischer, diese Verkrustung zu durchbrechen, wurden argwöhnisch beobachtet - schlechte Einzelerfahrungen wurden als Bestätigung einer ablehnenden Haltung gewertet - freundliches Entgegenkommen als Ausnahme abqualifiziert.

In dieses Spannungsfeld wuchsen wir Kinder nichtsahnend hinein. Wir waren "anders". Das spürten wir von Hause aus. Aber wieso und wie anders? Nach Schulbeginn 1960 in Rheydt habe ich ungefragt Antwort darauf bekommen. Hat mich meine Sprache enttarnt? Waren es Begriffe, die ich selbstverständlich benutzte und mit denen meine Mitschüler nichts anfangen konnten? Habe ich womöglich auf die Frage: "Was gibt's denn heute bei euch zu essen?" ein polnisches Gericht genannt, von dem ich annehmen musste, dass es jeder kennt? Habe ich womöglich vom "Lager" erzählt, in dem wir gelebt hatten - im Glauben, auch die anderen wären da gewesen? Wie auch immer - über kurz oder lang bekam der "Polacke" seine Prügel. Immer wieder, bis er begriffen hatte, dass er Außenseiter war. Kinder sind grausam. Aber oft sind sie auch der Zerrspiegel ihres Elternhauses. Keines der prügelnden Kinder wusste, was mit "Polacke" gemeint war - am allerwenigsten aber ich selber...

Dieser "Stellvertreterkrieg" der Zwerge zeigt etwas von der Aufgeregtheit der Erwachsenenwelt, von den politischen Anspannungen der damaligen Zeit und dem Druck, dem ein in sich noch labiles Gesellschaftsgefüge ausgesetzt war.

Später schliffen sich diese Gereiztheiten ab. Bis ich auf das Gymnasium wechselte, hatte ich meine Lektion gelernt. Es gab eben Dinge, die man nicht so einfach erzählen konnte, die man aber auch gar nicht mehr erzählen wollte. Die neuen Mitschüler merkten mir meine Herkunft gar nicht mehr an. Diese neue Chance, in eine vorurteilsfreie Zukunft aufzubrechen, habe ich sehr genossen. Gemeinsamkeiten waren wichtiger als Unterschiede. Die Beatles waren für alle eine neue Erfahrung, und die Abneigung gegen den Mathematikunterricht teilte ich mit vielen Altersgenossen, ob Niederrheiner oder nicht. Bald auch bemerkte ich die Reize der neuen Heimat - die Absonderlichkeiten (wie das Karnevalsbrauchtum) - ebenso wie die Erdigkeit ihrer Sprache, die Schlitzohrigkeit, die ich bald als Gemeinsamkeit mit dem Oberschlesischen identifizierte. Überhaupt gab es so viele mentale Ähnlichkeiten, dass die Grenze zwischen hier und da, gestern und heute, ziemlich schnell verschwamm.

Letztlich hat mir dieses Land, als es ihm selbst gar nicht gut ging, eine Chance gegeben! Es waren die Menschen hier, die mich, bei allen Vorbehalten, doch angenommen haben - so sehr, dass sie mich heute ungläubig anstarren, wenn ich erkläre, gar kein gebürtiger Niederrheiner zu sein. Sicher, ich habe auch viel Glück gehabt. Aber ich habe auch über den langen Schatten einer Vergangenheit springen müssen, an der ich selbst nichts ändern konnte. Und es kam der Zeitpunkt, als ich mich ganz individuell entscheiden musste, ob ich rückwärts oder vorwärts gehen wollte. Wo ich den Unterschied erkennen musste, zwischen der hilfreich und der abwehrend ausgestreckten Hand. Für viele der Älteren war das nicht so einfach möglich. Zu tief saß der Schock des Erlebten, die Demütigung der gebrochenen Identität, die Angst davor, verletzt zu werden.

Freilich, es bedurfte einer gewaltigen Anstrengung und Selbstüberwindung, die damaligen Probleme zu lösen. Für den Einzelnen ebenso wie für das Land. Für Zugereiste wie für Hiesige. Aber was dieses Land zu leisten imstande ist, wenn die Menschen es wollen, habe ich selbst erlebt. Ich bin heute in der glücklichen Lage, ihm einiges davon zurückzugeben. Und sei es in Form aufmunternder Kritik, wenn wir wieder einmal in Zweifel darüber geraten, ob wir diesen oder jenen, dies oder das wirklich verkraften können. Etwas davon steckt womöglich sogar im motivierenden Karnevals-Motto, das ich dieser starken Stadt schenken durfte: "M´r donnt, wat m´r könne!"

Übrigens: Heute, wo die gebratene "Krakauer" in aller Munde ist, kann man es sich kaum noch vorstellen: Ihre bloße Erwähnung hätte einem kleinen Schuljungen vor 55 Jahren Klassenkeile eingebracht.

(RP)
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