Redaktionsgespräch mit Petra Pigerl-Radtke und Stefan Bresser Für eine Ausbildung ist es nie zu spät

Mönchengladbach · Die IHK-Geschäftsführerin für Aus- und Weiterbildung und der Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft sprechen über sinkende Bewerberzahlen und sagen, warum es noch nicht zu spät ist, sich um einen Ausbildungsplatz zu bewerben.

 Petra Pigerl-Radtke und Stefan Bresser in einer der Lehrwerkstätten der Kreishandwerkerschaft.

Petra Pigerl-Radtke und Stefan Bresser in einer der Lehrwerkstätten der Kreishandwerkerschaft.

Foto: Detlef Ilgner

Herr Bresser, Handwerker sind Mangelware und heiß begehrt. Ein Traumberuf für Jugendliche?

Stefan Bresser Sollte man meinen. In der Realität ist es aber leider so, dass Handwerksbetriebe Schwierigkeiten haben, Auszubildende zu finden. Junge Menschen sehen ihre Perspektive oft eher in der schulischen oder akademischen Ausbildung. Für die Duale Ausbildung mit all ihren Möglichkeiten sind sie weniger zu begeistern. Die Zahl der Auszubildenden in Mönchengladbach ist zwar seit vielen Jahren stabil, aber die Zahl der Bewerber um einen Ausbildungsplatz ist stark rückläufig. Ich weiß von Unternehmen in der Elektrobranche, bei denen die Bewerberzahl um bis zu neunzig Prozent zurückgegangen ist. Die Elektrobranche gehört zu den Branchen mit den größten Schwierigkeiten, Auszubildende zu finden. Ebenso groß sind die Probleme im Bereich Sanitär/Heizung/Installation und beim kompletten Lebensmittelhandwerk, zum Beispiel bei den Bäckern oder den Fleischereifachverkäufern.

Machen Sie bei der IHK die gleichen Erfahrungen, Frau Pigerl-Radtke?

Petra Pigerl-Radtke Ja, es sieht ähnlich aus. Kleine und mittelständische Unternehmen haben Schwierigkeiten, Auszubildende zu finden, weil ihr Bekanntheitsgrad zu gering ist. Grundsätzlich klagen aber fast alle Unternehmen über Bewerbermangel.

Gibt es auch bei Ihnen Branchen, die besonders betroffen sind?

Pigerl-Radtke Die Logistik ist ein Beispiel dafür. Diese Branche spielt in Mönchengladbach eine wichtige Rolle. Aber auch der Handel und die Gastronomie bieten noch viele Ausbildungsplätze und engagierten jungen Leute gute Karrieremöglichkeiten. Momentan haben wir noch 600 offene Ausbildungsplätze in unserer Lehrstellenbörse. Es gibt also noch viele Möglichkeiten für junge Leute, die noch keine Stelle gefunden haben. Der Ausbildungsberuf muss natürlich zum Kompetenzprofil des Jugendlichen passen, aber wer sucht, sollte sich nicht nur auf einen und womöglich den bekanntesten Ausbildungsberuf beschränken, sondern auch rechts und links gucken. Wenn es der Kaufmann für Büromanagement nicht ist, ist es vielleicht ein anderer kaufmännischer Ausbildungsberuf.

Haben die Ausbildungsberufe Darstellungsprobleme? Werden die Möglichkeiten, die sie bieten, nicht oder nicht vollständig wahrgenommen?

Bresser Ich habe jedes Jahr rund tausend junge Leute hier, die ich für das Handwerk begeistern möchte. Sie haben aber häufig gar keine Vorstellung von einem beruflichen Ziel. Sie denken gar nicht perspektivisch. Auf die Frage, was ihnen wichtig ist, bekomme ich Antworten wie "Man muss auch chillen können" oder es werden flexible Arbeitszeiten genannt. Fakt ist jedenfalls: Das Handwerk wird als nicht attraktiv genug wahrgenommen. Es gibt mehr Interesse für die akademische Laufbahn, auch wenn sie nicht mit einem konkreten Berufsziel verbunden wird.

Pigerl-Radtke Wir müssen deutlich machen, dass eine Entscheidung für eine Ausbildung keine gegen ein Studium ist. Es gibt berufliche Karrierewege über Aus- und Fortbildung, die zu Qualifikationen führen, die mit den akademischen Abschlüssen Bachelor und Master vergleichbar sind, zum Beispiel der Fachwirt, der Betriebswirt und der Meister. Studium und Ausbildung sind keine Gegensätze. Es geht darum, ein Berufsziel zu finden und dann zu entscheiden, auf welchem Weg man es am besten erreicht.

Wo läuft es denn schief? Wo kann man ansetzen, um den Akademisierungswahn zu stoppen und jungen Menschen die Möglichkeiten des dualen Ausbildungssystems, um das Deutschland international beneidet wird, nahezubringen?

Bresser Ich habe lange geglaubt, dass die Lehrer in die Pflicht genommen werden müssen, aber die Schulen tun inzwischen wirklich viel. In den letzten Jahren habe ich erkannt, dass die Eltern der Schlüssel sind. An sie ist aber schwer heranzukommen. Bei Infoabenden, die wir regelmäßig veranstalten, erreichen wir höchstens zehn Prozent. Neunzig Prozent interessieren sich nicht dafür.

Pigerl-Radtke Früher hieß es immer, dass die Gefahr der Arbeitslosigkeit bei Akademikern am geringsten ist. Das haben die Eltern verinnerlicht und transportieren es weiter. Dabei ist der Weg über die Ausbildung heute mindestens genauso gut. Die Eltern wollen sicher nur das Beste. Bildung heißt Erfolg, das ist schon richtig. Aber nicht nur schulische und akademische Bildung, auch berufliche Bildung bedeutet Erfolg. Es gibt noch ein zweites Problem und das liegt auf politischer Ebene. Die OECD-Studien vergleichen immer die Akademikerquoten, es müssen aber auch andere Qualifikationen beachtet werden. Akademische und berufliche Bildung sind gleichwertige Wege.

Braucht man möglicherweise mehr Vorbilder, also Menschen, die über eine Ausbildung nach oben gekommen sind? Eine Testimonial-Kampagne?

Pigerl-Radtke Wir haben eigentlich gute Imagekampagnen. Aber es stimmt, Vorbilder sind wichtig. Ich würde mich freuen, wenn mehr Persönlichkeiten und Prominente, die ihre Karriere mit einer Lehre begonnen haben, für die duale Ausbildung werben.

Bresser Ich sehe das Problem darin, dass sich das Verhalten der Jugendlichen geändert hat. Sie wollen gern in der Komfortzone Schule bleiben, um sich nicht entscheiden zu müssen. Uns wurde vor dreißig Jahren noch eine Entscheidung zur Berufswahl abverlangt.

Wie lässt sich das ändern? Wie kann diese Unlust, Entscheidungen zu fällen, behoben werden?

Pigerl-Radtke Das ist mein Dauerthema. Es geht darum, die Lust auf den Berufsweg zu wecken, zu zeigen, dass es Spaß macht, auf eigenen Füßen zu stehen. Es gibt auch Vorurteile, zum Beispiel gegenüber der Gastronomie. Das tut mir immer weh, denn in dieser Branche steckt ein enormes Potenzial. Und man kann in der ganzen Welt arbeiten.

Es gibt über 300 Ausbildungsberufe, aber die meisten kennen nur die Top 10. Ist das auch ein Problem?

Pigerl-Radtke Sobald wir mit den Jugendlichen ins Gespräch kommen, können wir die Bandbreite der Ausbildungsmöglichkeiten super aufzeigen.

Bresser Durch Landesprogramme wie die Berufsfelderkundungstage des Programms "Kein Abschluss ohne Anschluss" können die Schüler viele Berufe kennenlernen. Wir haben dann immer 350 Schüler in den Werkstätten. Auch "Check-in Berufswelt" bietet Möglichkeiten, in die Betriebe hinein zu schnuppern. Viele Handwerksberufe haben sich gewandelt. Im Bereich Sanitär und Heizung beispielsweise sind die erneuerbaren Energien angesiedelt. Die Auszubildenden haben weniger mit verstopften Rohren als mit modernster Technik zu tun.

Eine größere Zahl von Studierenden bricht ihr Studium ab. Können Sie sie für eine Ausbildung gewinnen?

Bresser Wir sprechen eigentlich lieber von Studienzweiflern, weil der Abbruch des Studiums schambesetzt ist. Ein paar erreichen wir. In der Elektrobranche beispielsweise weiß ich von drei Auszubildenden, die nach einem im Rahmen des Studiums erforderlichen Praktikums lieber eine Ausbildung begonnen haben. Viele sind es aber nicht.

Pigerl-Radtke Ich habe bei Check-in Berufswelt einen jungen Mann mit seiner Mutter getroffen, der sein Studium abgebrochen hatte und nun einen Ausbildungsplatz suchte. Es ist uns gelungen, noch für dieses Jahr etwas für ihn zu finden.

Wie sieht es mit der Qualität der Bewerber aus? Können die Schüler genug, um in der Ausbildung zurechtzukommen?

Bresser Es ist schon so, dass die Qualität nachgelassen hat. Vor 25 Jahren konnten die Handwerksbetriebe Hauptschüler einstellen, heute ist das schwierig. Oft hapert es an den Grundrechenarten. Auf der anderen Seite sind die Ausbildungsinhalte anspruchsvoller geworden. Aber viele Ausbildungsbetriebe gehen hin und schulen schwächere Kandidaten. Die Tischlerinnung bietet zum Beispiel kostenlose Nachhilfe für Auszubildende an.

Pigerl-Radtke Ausbildung ist sowohl etwas für starke Abiturienten als auch für schwächere Hauptschüler. Wichtig sind Sozialkompetenz und Leistungsbereitschaft. Die Einstellung ist von größerer Bedeutung als die schulischen Noten. Unternehmen bieten heute vielfach Unterstützungsmaßnahmen wie internen Unterricht.

Kann der voraussehbare Fachkräftemangel durch Zuwanderung abgemildert werden? Können Flüchtlinge hier die Lücken schließen?

Bresser In den nächsten drei bis fünf Jahren bin ich da eher skeptisch. Aber wenn die Sprachprobleme überwunden sind, sehe ich Chancen.

Pigerl-Radtke Unser Projekt "Willkommenslotsen" führt langsam dazu, dass erste Flüchtlinge in Ausbildung gebracht werden. Aber das löst nicht das gesamte Fachkräfteproblem. Das kann nur ein Beitrag sein. Für 27 Prozent unserer Betriebe bedeutet der Fachkräftemangel ein Konjunkturrisiko. Das heißt, sie bekommen nicht genug qualifizierte Leute.

Gibt es außer guten Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten noch andere Gründe, die für eine Ausbildung im Handwerk sprechen?

Bresser Die Nachfolge ist ein interessantes Thema. In den nächsten fünf bis acht Jahren werden für viele Betriebe Nachfolger gesucht werden. Das kann eine spannende Perspektive für junge Menschen mit Unternehmergeist sein.

Was sagen Sie Jugendlichen, die noch keinen Ausbildungsplatz haben?

Pigerl-Radtke Es ist noch nicht zu spät, in diesem Jahr noch etwas zu beginnen. Sie sollen nicht aufgeben, sondern sich jetzt noch bewerben. Wenn es mit Traumberuf Nummer eins nicht klappt, dann eben mit Nummer zwei oder drei.

DENISA RICHTERS, ANGELA RIETDORF UND JAN SCHNETTLER FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Freie Ausbildungsplätze unter: www.ihk-lehrstellenboerse.de, www.mittlerer-niederrhein.ihk.de/8261, www.handwerk-mg.de und bei der Arbeitsagentur.

(dr)
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