Mönchengladbach Grotesker Tango und ein verstrahlter Buddha

Mönchengladbach · Der japanische Regisseur und Psychiater Kuro Tanino bringt eine schizophrene Persönlichkeit auf die Studiobühne des Theaters.

 Christopher Wintgens hat sich auf der Bühne in einen 75-jährigen Japaner verwandelt. Doch hinter der gespaltenen Persönlichkeit verbirgt sich ein psychisch kranker deutscher Japanologe. Im Stück "Käfig aus Wasser" hantiert er meistens mit einer Laptop-Tastatur, um E-Mails in alle Welt zu versenden.

Christopher Wintgens hat sich auf der Bühne in einen 75-jährigen Japaner verwandelt. Doch hinter der gespaltenen Persönlichkeit verbirgt sich ein psychisch kranker deutscher Japanologe. Im Stück "Käfig aus Wasser" hantiert er meistens mit einer Laptop-Tastatur, um E-Mails in alle Welt zu versenden.

Foto: Matthias Stutte

Verschwörungstheoretiker haben Hochkonjunktur. Das lässt sich an Internetforen wie Facebook jeden Tag ablesen. Gesundes Misstrauen gegenüber mächtigen Lobbyisten oder Geheimdiensten, die nicht genug Daten über Menschen zusammenraffen können, ist seit den Enthüllungen Edward Snowdens gewiss angebracht, aber Personen mit paranoider oder schizophrener Störung sind generell anfällig für solche Szenarien im Kopf.

Davon kann der japanische Psychiater und Theaterregisseur Kuro Tanino ein Lied singen. Oder ein Schauspiel für einen Protagonisten schreiben. Die Mönchengladbacher Erstaufführung von "Käfig aus Wasser" im Studio des Theaters fand jetzt viel Anklang und Zustimmung.

Es ist ein trauriges Stück, aber es weist auch tröstliche, nämlich humoristische Züge auf. Und eine Menge davon, was unter dem Fachbegriff "Suspense" dem Altmeister Alfred Hitchcock als dessen Verdienst um die Filmgeschichte zugeschrieben wird.

Rintaro Kodama erhebt sich von seinem Lager, ein alter, gebeugter Mann im Yukata-Kimono und mit hochgestecktem Dutt. Christopher Wintgens hat auf der von Caspar Pichner zu einem gläsernen, klinisch weißen Apartmentgehäuse ausgebauten Bühne andere Existenz angenommen: ein 75-jähriger japanischer Buddhist, Professor für deutsche Literatur, als solchen gibt sich der Mann aus. Zu erleben ist ein ständig mit Laptop-Tastatur hantierender Getriebener, der die ganze Welt vor der Atom-Mafia und vor "Big Brother" retten will. Als Gegner macht Rintaro ein Kartell der Vertuschung aus der japanischen, aber auch der chinesischen Regierung und dem Betreiber des zerstörten Reaktors in Fukushima aus. Die Abteilung Maske hat ganze, total verfremdende Arbeit an dem Schauspieler geleistet. Gesundheitsförderlich kann die von Regisseur Kuro Tanino auferlegte Bückhaltung freilich nicht sein. Das erträgt Wintgens nicht nur, er wächst mit beklemmender Intensität in die Gestalt eines 75-Jährigen hinein.

Rituell durchschlurft er die beiden Räume, in die wir durch eine trennende Glasscheibe Einblick haben. Um kleine Verrichtungen am Hausaltar, der zugleich ein ausziehbares Waschbecken ist, zu vollziehen. Oder um die kleinen Klangschalen, die ein bei Bedarf aus der Versenkung auffahrender goldener Buddha auf einer Art Tablett balanciert, in Schwingung zu versetzen. Später trägt die rundliche Statue ein Schild, das vor Radioaktivität warnt. Lang und breit unterweist der Mann uns in der Philosophie der Bonsai-Pflege. Oder er bereitet in einer feierlichen Teezeremonie das Getränk für seine schlafende Frau und sich selbst zu. Allerdings, ein krachender Fauxpas, geschieht dies hier mit Teebeuteln!

Die Bonsai-Bäumchen sind mit Bedacht ins Spiel gepflanzt, muss ein Exemplar doch später dafür herhalten, die Theorie des durch radioaktive Verstrahlung ausgelösten ungehemmten Monsterwachstums zu beglaubigen: Da reicht der Baum fast bis zur Zimmerdecke. So erklärt Kodama sich auch die Tatsache, dass er in kurzer Zeit 30 Zentimeter gewachsen sei.

Spätestens hier begreifen wir, dass wir es mit einem Schizophrenen zu tun haben, und so kommt am Schluss die Erkenntnis, dass der "Japaner" in Wirklichkeit ein Deutscher ist und in einer deutschen Großstadt wohnt, nicht mehr gar so überraschend.

Spannender gelingen die Szenen um die Mitbewohnerin, die gar keine ist. Denn die Frau, mit der Kodama angeblich zusammen lebt, die ihn verließ, ist nur eine hölzerne Puppe mit degenerierten Armen! Grotesk und schaurig wird es, wenn Kodama mit dieser Frauenattrappe ein Tangotänzchen hinlegt, oder - krasser - auf ihr hockend sexuelle Aktivitäten simuliert. Dazu maskiert sich der Mann mit einer symbolisch eindeutigen Maske nach Vorbild des japanischen Kabuki-Volkstheaters. Ein Schlager von Hans Söhnker aus dem Jahr 1936 ("Unter den Pinien von Argentinien") und eine Arie aus Puccinis "Madama Butterfly" steigern dabei den absurden Gesamteindruck.

Das Unbehagen löst sich, wenn der alle Register seiner mimischen Kunst ziehende Christopher Wintgens sich am Ende auf der Bühne abschminkt, die Perücke zu Boden wirft und Vogelgezwitscher sowie Kindergeschrei von draußen in den Raum dringen. Der Alptraum ist zu Ende. - Großer Applaus für 100 Minuten Spitzenleistung.

(ri-)
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