Mönchengladbach Heimkind - gedemütigt und missbraucht

Mönchengladbach · Uwe Werner (62) hat seine Kindheit und Jugend in Kinderheimen verbracht. Er ist bis heute traumatisiert. Er hat eine Entschädigung aus dem Hilfsfonds Heimerziehung bekommen und hilft anderen Betroffenen bei den Behördengängen.

 Uwe Werner (r.) erlebte als Kind und Jugendlicher Grausamkeiten in Heimen. Nun hilft er anderen Betroffenen wie seinem Freund Hermann-Josef Humeny.

Uwe Werner (r.) erlebte als Kind und Jugendlicher Grausamkeiten in Heimen. Nun hilft er anderen Betroffenen wie seinem Freund Hermann-Josef Humeny.

Foto: Isabella Raupold

Unvermittelt treten ihm Tränen in die Augen. Immer wieder. Das Leid schmerzt auch heute noch, die Frage nach dem Warum wird er nicht los, die Erinnerungen sind quälend. Direkt nach seiner Geburt am 4. Juni 1952 ist Uwe Werner ins Vinzenz-Kinderheim in Bochum gebracht worden. In dem katholischen Haus lebten damals um die 250 Mädchen und Jungen - unehelich geboren, oft Kinder von Soldaten.

Es wurde geprügelt. Die Küchennonne bestrafte die Kinder mit der Peitsche, andere schlugen bei der geringsten Kleinigkeit mit dem Kleiderbügel zu, erinnert sich Uwe Werner. Eine Nonne war anders. "Sie war wunderbar." Und er weiß heute, dass sie nicht nur seine Wunden versorgte, sondern auch ihre Hand über ihn hielt. "Das war Schwester Ehrenburga." Meine Nonne, nennt Uwe Werner sie. So wie andere sagen: meine Mutter. Er galt als Protestant in dem katholischen Haus und wurde entsprechend schlecht behandelt. Später sollte sich herausstellen, dass er gar nicht getauft worden war.

"Ich weiß nicht, wer mein Vater war - bis heute nicht", sagt Werner, der in einer kleinen Wohnung in Holt lebt. Seine Mutter hat er kennengelernt. Hat sogar ein Jahr bei ihr und seinem Stiefvater gelebt. Da war er zwölf Jahre alt. "Das war die Hölle, beide waren Alkoholiker, nichts war gut." Die Nonnen im Kinderheim meinten, ein schlechtes Elternhaus sei besser als keines. "Sie hatten nicht recht", sagt Uwe Werner. Er wollte zurück ins Vinzenz-Kinderheim. Das wurde ihm verwehrt. Er wurde ins evangelischen Knabenheim Westuffeln bei Werl gebracht. Da war er 13 Jahre alt. "Dort begannen die schlimmsten Jahre meines Lebens."

Die Verantwortung für das Heim trug damals die Mellin'sche Stiftung, geleitet wurde es von einem Diakon der Bruderschaft Nazareth. "Wir haben auf Knien auf den Äckern geschuftet - viele Stunden des Tages", berichtet Uwe Werner. "Es gab keine Liebe, kein Mitleid, keine Hoffnung." Die Jungen wurden traktiert - mit Prügel, Demütigung und Essensentzug. Und sexuelle Misshandlungen waren an der Tagesordnung.

"Der Diakon schlief neben unserem Schlafsaal. Er konnte uns durch eine Durchreiche jederzeit beobachten." Jeden Abend wiederholte sich das widerwärtige Ritual. "Er bestellte einen von uns in sein Schlafzimmer." Uwe Werner erinnert sich an die Nacht vor seiner Konfirmation. "Da war ich dran." Und am Altar legte ihm eben dieser Diakon, der ihn zuvor erniedrigt und missbraucht hatte, die Hände auf und wurde sein Konfirmationspate. "Ich habe gezittert wie Espenlaub."

Von 1964 bis 1966 lebte Uwe Werner in diesem Heim. "Dort gab es nichts Angenehmes, nur Angst und Leid." Einmal hat ihm der Heimleiter eine brutale Ohrfeige verpasst, die seitdem noch nachwirkt. "Das Trommelfell platzte, Blut lief aus dem linken Ohr." Bis heute ist Uwe Werner links so gut wie taub. Und sein Gleichgewichtssinn ist seit diesem Tag erheblich gestört.

Nach einer Lehre in einer Bäckerei, zu der ihn die Heimleitung nötigte, und dem Wehrdienst bei der Bundesmarine machte in der Uniklinik Düsseldorf sein Examen als Krankenpfleger. Er ging der Liebe wegen nach Holland, wiederholte in Den Haag sein Examen und arbeitete eine Zeit lang dort. "In dieser Zeit wurde mir klar, was die Heimerziehung in mir angerichtet hat", sagt Uwe Werner. Er konnte in der Folge keine Beziehung halten, begab sich in Traumatherapien, und bis heute besucht er die Lebens- und Glaubensberatung, um sein Schicksal bewältigen zu können.

2010 schlugen Staats-, Kirchen- und Opfervertreter nach langen Verhandlungen an einem runden Tisch zur Aufarbeitung von Misshandlungen in Kinderheimen einen Hilfsfonds vor. Die Leiterin des Gremiums, die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, sprach sich damals für einen "Hilfsfonds Heimerziehung" in Höhe von insgesamt 120 Millionen Euro aus.

Uwe Werner wurde aktiv. Und stellte schnell fest, wie schwierig und demütigend die Beschäftigung mit dem Hilfsfonds ist. "Dabei geht es für jeden Antragsteller gerade einmal um 10 000 Euro", sagt er. Die Bewerber müssen sich um schriftliche Nachweise über ihre Vergangenheit als Heimkinder bemühen, was oft nicht einfach ist. Sie müssen detailliert über ihre Erlebnisse in den Heimen berichten - und das, obwohl sie ohnehin traumatisiert sind. Uwe Werner hat den bürokratischen Weg gemeistert. Und heute setzt er sich für seine Leidensgenossen ein, hilft ihnen bei Anträgen und begleitet sie bei Behördengängen.

So auch seinen Freund Hermann-Josef Humeny, der ebenfalls in Kinderheimen aufwuchs und ähnlich schmerzliche Erfahrungen gemacht hat wie Uwe Werner. "Ich wollte mich eigentlich gar nicht an den Hilfsfonds wenden", sagt er. Zu mühsam, zu schmerzlich sei ihm die Prozedur. Aber mit ihm an seiner Seite will er es angehen. "Ich ermuntere ihn immer: Sei stolz, habe Mut", sagt Uwe Werner.

Mut und Durchhaltevermögen wird Hermann-Josef Humeny in der Tat brauchen. "Die 10 000 Euro bekommt niemand einfach so", sagt Werner. Jeder Antragsteller muss einen Wunschzettel einreichen. Dieser geht zur Bundesanstalt für familiäre und gesellschaftliche Aufgaben in die sogenannte Schlüssigkeitsprüfung. Wenn die positiv erfolgt ist, darf der Antragsteller einkaufen - und zwar genau das, was er Wochen vorher aufgelistet hat.

Was Uwe Werner unbedingt öffentlich machen will, ist der Beschluss des Lenkungsausschusses, der damals vom runden Tisch installiert wurde: "Kürzlich wurde bekannt, dass Anträge an den Heimfonds Ost nur noch bis Ende des Monats gestellt werden können, Anträge an den Heimfonds West noch bis Ende des Jahres", sagt Uwe Werner. "Danach ist ein für alle Mal Schluss."

Den Antragstellern will Uwe Werner Mut machen - und ihnen zur Seite stehen. Deshalb gibt er gern seine Telefonnummer bekannt: 0152 23627521.

(RP)
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