Serie Denkanstoß Historie kennen, Zukunft gestalten

Mönchengladbach · Der Autor ist zurzeit im polnischen Gebiet Masuren unterwegs. Der Ort mit der schwierigen Vergangenheit inspiriert dazu, sich mit der Geschichte zu befassen und so als Gesellschaft zusammenzuwachsen.

 "Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen" - der Sorquittener See in Masuren.

"Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen" - der Sorquittener See in Masuren.

Foto: Olaf Nöller

Diesen Text schreibe ich in Pasym/ Masuren, wo ich zurzeit mit einer 28-köpfigen Studiengruppe in unserer polnisch-evangelischen Partnergemeinde zu Gast bin. Pasym, ein beschauliches, schon aus dem Mittelalter stammendes Städtchen hieß bis vor 70 Jahren Passenheim. Es gehörte mit der Landschaft Masuren zum südlichen Teil der alten Provinz Ostpreußen, die heute in ein polnisches, russisches und litauisches Gebiet aufgeteilt ist.

Im Januar 1945 eroberte die russische "Rote Armee" auch diesen Ort. Viele der Einwohner flohen damals, kamen um, wurden vertrieben oder entschlossen sich erst viel später zur Ausreise nach Deutschland. Mit all dem endete nicht nur die entsetzliche Naziherrschaft, die das Grauen dieses Krieges heraufbeschworen hatte, sondern leider auch die kulturell so reichhaltige deutsche Geschichte dieses immer noch wunderschönen Landes.

Sieben Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Aus dem kommunistischen Polen, das der von Stalin verordneten Verschiebung des Staatsgebietes nach Westen zustimmen musste, ist heute ein offenes, demokratisches Land geworden, das sich - auch dank der Zugehörigkeit zur EU - im wirtschaftlichen Aufschwung befindet. Überall wird hier gebaut und renoviert, die Natur gehegt und gepflegt. Auch der Umgang mit der deutschen Vergangenheit und ihren geschichtlichen Zeugnissen hat sich seit 1989 grundlegend gewandelt. Nach ideologischen Vorbehalten und zeitweiliger Tabuisierung ist heute bei den Polen ein erstaunliches Interesse an der Historie des Landes und auch den Lebensgeschichten der ehemaligen Einwohner zu verzeichnen.

Vor diesem Hintergrund äußert auch mein polnischer Kollege in Pasym, Pfarrer Witold Twardzik, in einem kürzlich erschienenen Reiseführer bemerkenswerte Gedanken, mit denen ich Sie, liebe Landsleute, aus der Ferne zum Nachdenken anregen möchte: "Wir bewohnen hier eine Region, der das vergangene Jahrhundert schwere Wunden zugefügt hat. Diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg hier geblieben sind, entdecken ihre eigene, besondere Identität wieder. Diejenigen, die ihre Heimat in den ehemals polnischen Gebieten verloren haben und sich hier niedergelassen haben, entdecken die Vergangenheit des Landes, in dem sie heute leben, neu. Um irgendeinen Ort kennen zu lernen, muss man seine Vergangenheit kennen. Denn wo auch immer, erst dann wenn die Menschen ihre Biografie mit der Geschichte der eigenen Region verbinden, können sie in ihr Wurzeln schlagen, wirklich sesshaft werden, sich wie zu Hause fühlen, ihre Heimat finden. Erst dann gewinnen sie ein regionales Bewusstsein und eine regionale Identität. Es muss eine Menge Zeit vergehen (...). Aber nur Menschen, die sich der eigenen Möglichkeiten bewusst sind und ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Region besitzen, in der sie leben, können die Welt und die nächste Umgebung ändern und sich beim Aufbau der lokalen Gesellschaft engagieren."

Ist das nicht eine Ermutigung für uns Deutsche, auf unsere Zuwanderer zuzugehen und ihnen dann, wenn sie bei uns Wohnung, Arbeit und Auskommen gefunden haben, auch unsere Kulturgeschichte sowie die politischen Errungenschaften unseres Landes, auf die wir zu recht stolz sind, nahe zu bringen? Nur so wachsen wir richtig zusammen und können unser Land gemeinsam voran bringen.

OLAF NÖLLER IST EVANGELISCHER PFARRER IN RHEYDT.

(RP)
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