Serie Was Macht Eigentlich? Immer wieder dem Tod entkommen

Mönchengladbach · Juden-Ghetto, zwei Arbeitslager, drei Konzentrationslager, "Todesmarsch", Pogrome in Polen: Icek Ostrowicz hat alles überlebt. Seit 1947 ist er Mönchengladbacher, wurde ein erfolgreicher Mode-Kaufmann. Heute, mit 88, bemüht er sich um Bildungschancen für hochtalentierte Juden.

Es ist eine schreckliche, grausame Geschichte. Eine, wie sie unendlich vielen Juden durch die Nationalsozialisten widerfuhr. Es sind die einzelnen Menschen, die der Geschichte Gesichter geben. Wie das von Icek Ostrowicz, heute 88 Jahre alt, seit 1947 Mönchengladbacher.

Er war 13, als seine Familie 1940 ins Ghetto gesperrt wurde, wie alle 27 000 Juden in seiner Heimatstadt Kielce, 180 Kilometer südlich von Warschau, 100 000 Einwohner groß. Er war 18, als 1946, zurück in Kielce, die schreckliche Vision, die er schon lange gefürchtet hatte, zur tödlichen Gewissheit wurde: Vater, Mutter, drei Geschwister, die Großeltern, Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen - alle tot. Vergast im Konzentrationslager Treblinka - insgesamt etwa 40 Menschen seiner Familie.

Icek Ostrowicz hat als Einziger überlebt. Weil er 1940 als 13-Jähriger das "Glück" hatte, als arbeitsfähiger Jude nicht in die Transporte nach Treblinka gesteckt zu werden wie alle anderen seiner Familie. Er kam in zwei Arbeitslager und in drei Konzentrationslager, hat sie mit ungeheurem Lebenswillen, Mut und Glück überstanden. "Wenn der Krieg 1945 ein paar Wochen später zu Ende gewesen wäre, ich wäre wahrscheinlich gestorben, weil ich total ausgezehrt war", sagt Ostrowicz.

Das Ende erlebte er im April 1945 in der Nähe Magdeburgs, auf dem berüchtigten "Todesmarsch": "Ich war zuletzt in Mittelbau Dora, einer Außenstelle des KZ Buchenwald, wo wir beim Bau der V2-Raketen mitmachen mussten", erzählt Ostrowicz. Die amerikanischen Truppen nahten, die Deutschen wollten die KZ-Häftlinge wegschaffen, damit die US-Army sie nicht fand. Sie mussten marschieren, bis sie umfielen. Wer nicht mehr weiter konnte, wurde erschossen. "Doch die Wehrmacht hatte keinen Plan mehr. Am Morgen des 11. April wurden wir zwischen Magdeburg und Egeln in der Scheune, in die man uns gesteckt hatte, wach - und es war keiner mehr da, der uns bewachte." Icek Ostrowicz ergriff die Flucht und schlug sich alleine durch, heim nach Kielce - um zu erfahren, dass keiner seiner Familie mehr lebte.

Die jüdische Form des polnischen Icek ist Yitzchak, was "der Lachende" heißt. Ostrowicz hat unter den Nazis und dann 1946 in Kielce bei den nun folgenden Pogromen der polnischen Katholiken gegen die Juden Schlimmes erlebt. Er lacht nicht sehr viel: "Ob es mit den Erlebnissen zusammenhängt, weiß ich nicht." Doch er hat den Lebensmut nie verloren. Und ist ein sehr erfolgreicher Kaufmann geworden.

Von Kielce aus flüchtete er 1947 vor den Pogromen nach Türkheim in Bayern. Er fuhr täglich nach München, tauschte Zigaretten, die er bekommen hatte, gegen Textilien. "Aber ich war nie auf dem damals überall blühenden Schwarzmarkt. Als Sohn eines ehrbaren jüdischen Kaufmanns wollte ich das nicht." In Türkheim freundete sich Ostrowicz mit dem Sparkassendirektor Strauss, Mitinhaber der Gladbacher Firma Strauss & Overlack, an. Bei einem Besuch hier lernte er die Wickratherin Marianne Konietzko kennen, lieben - und zog um.

Nach der Währungsreform im Juni 1948 fing er mit einem ganz kleinen Handelsgeschäft an: Er besorgte sich Einfuhrlizenzen, importierte und verkaufte Textilien in einem knapp 15 Quadratmeter großen Zimmer an der Schillerstraße 49. Am 1. Oktober 1950 meldete er bei der Stadt ein Gewerbe an und gründete die Firma Ostita Moden. Sie verkaufte zunächst Nylonstrümpfe, bald auch Strickwaren. Ostita stand für Ostrowicz Italien. "Ich war der Erste in Deutschland, der Strickwaren aus Italien importierte. Auch der Erste, der 1958 auf der Düsseldorfer Modemesser Igedo in Italien produzierte Mode verkaufte. Und schließlich mit der Erste, der in Fernost produzieren ließ, wie später zum Beispiel auch die Gladbacher Firma van Laack." Ostita-Moden, Import und Export, zog von der Schiller- zur Kaiserstraße, dann ins Haus Westland, schließlich an die Sittardstraße, wo sie bis Ende der 80er Jahre blieb, als Icek Ostrowicz sich als Geschäftsmann zurückzog. Auch die Firma Roberta Roncallo Damenblusen schloss er.

Icek Ostrowicz war sehr erfolgreich. Dabei hatte er eine unzureichende Schulbildung: Als Jude wurde er im sechsten Schuljahr von der Schule in Kielce verbannt, lernte aber früh, sich um Mutter und Geschwister zu kümmern. Nur der Großvater unterrichtete ihn ein wenig, vorwiegend in jüdischer Religion. Als der Krieg beendet war, hatte Icek weder Zeit noch Geld, aufs Gymnasium zu gehen: Es galt, zu überleben. Und das machte er gut. Den Kaufmanns-Sinn hat er vom Vater geerbt, der in Kielce eine kleine Firma für Textilausrüstung betrieben hatte. Den "Rest" brachte er sich Schritt für Schritt bei: In der praktischen Arbeit, mit sehr viel Lesen, Zeitungen und Sachbüchern, bei Vorträgen und Diskussionen, lernte im Selbststudium Englisch und Italienisch.

Icek Ostrowicz hat seine traumatischen Erlebnisse nicht völlig überwunden: "Heute kommen sie zum Teil wieder. Aber ich lebe trotzdem gerne in Deutschland, sehe nicht die Allgemeinheit, sondern immer den einzelnen Menschen. Ich schaue mir jeden genau an, es ist mir gleich, welche Herkunft und Religion er hat."

Zwei Menschen, die er ganz besonders schätzen gelernt hat, sind Gerhard C. Stark, Anwalt und Sohn einer Jüdin wie er selbst, und seine Frau Renate Starck-Oberkoxholt, Oberlandesgerichtsrätin. Beide lebten in Düsseldorf und waren auch in Mönchengladbach tätig gewesen.

(RP)
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