Mönchengladbach Die Poesie des Schreckens

Mönchengladbach · "Eine Schiffsladung Nelken für Hrant Dink" ist ein Stück, das die Zuschauer niemals vergessen werden. Sie sind seelisch und körperlich gefordert.In atemloser Spannung erleben sie das intensive Spiel mit Sprache, Tanz, Gesang und unfassbaren Bildern.

Mönchengladbach: Die Poesie des Schreckens
Foto: Thomas Esser

Der Applaus setzte verzögert ein. Zu sehr hatte das Stück die Zuschauer erschüttert. Die drei Schauspieler, Joana Tscheinig, Denise Matthey und Jonathan Hutter, hatten 100 Minuten volle Aufmerksamkeit gefordert und bekommen. Keine Chance, der Geschichte zu entfliehen, von der sie berichteten, die sie tanzten und sangen - in spärlicher Kulisse vor Video-Produktionen aus dem Film "Die Farbe des Granatapfels" von Sergej Paradschanow. Die Worte so eindringlich wie die Bilder, das Wummern, das sich der Körper der Theaterbesucher bemächtigte, in Kopf und Herz stieg, schier unerträglich an den Nerven zerrte - das alles war ungewöhnlich, bedrohlich - und unvergesslich.

Wie bitteschön soll man eine Geschichte erzählen, die von anderthalb Millionen bestialisch niedergemetzelten Armeniern berichtet, von der mörderischen Verfolgung dieses Volkes durch die Türken, von Folter, Vertreibung und Flucht? Und wie von dem Mord an Hrant Dink, dem armenischen Journalisten und Staatsbürger der Türkei, der an die Versöhnung der Völker glaubte, dafür kämpfte und in Istanbul von einem 17-Jährigen auf offener Straße erschossen wurde?

Die armenische Schriftstellerin Anna Davtyan hat die Texte für die drei Schauspieler geschrieben. Es sind keine Dialoge, sondern poetische Monologe. Es geht um den heiligen Berg der Armenier - Ararat - der von der Hauptstadt Jerewan gut sichtbar aber unerreichbar ist, weil er seit dem Genozid auf türkischem Gebiet steht. Die Grenze zwischen der Türkei und Armenien ist dicht. Sie erzählen von dem armenischen roten Sauersaft, den die Türken als Heiltrank schätzten. Und von der Tänzerin Bujmiwa, die in einem Istanbuler Nachtclub tanzte.

Den Text von Anna Davtyan hat die ebenfalls armenische Regisseurin Zara Antonyan überaus eindringlich und intensiv in Szene gesetzt. Denise Matthey, Joana Tscheinig und Jonathan Hutter sind in dem Stück ungeheuer gefordert, sie setzen ihre Sprache messerscharf ein. Zudem verlangt Zara Antonyan ihnen eine enorme Körperlichkeit ab - mit ausgesprochen unerwarteten, ausdruckstarken Bewegungen, Gesten und Tänzen. Die Abfolge ist schnell, versetzt den Zuschauer in atemlose Spannung.

Und dann die Videosequenzen, die auf Kulisse und auch auf die ausgebreiteten Röcke der beiden Darstellerinnen projiziert werden. Panisch flatternde, kopflose Hühner umschwirren einen auf dem Boden liegenden Mann, ein Fisch kämpft auf dem Trockenen ums Überleben, der rote Saft von Paradiesäpfeln strömt aus den Früchten wie Blut. Kaum zu ertragen sind diese Bilder - doch: Was hier schrecklich und brutal erscheint, ist schrecklich und brutal. In welchem Verhältnis aber stehen die Szenen zu den brutalen Geschehnissen, die sich 1915 abspielten, als fast einem ganzen Volk das Leben genommen wurde?

Betroffenheit, Fassungslosigkeit, Mitgefühl, Wut - das sind die Gefühle, mit denen dieses Stück die Zuschauer entlässt. Der Applaus setzte verzögert ein - um dann aber gar nicht mehr enden zu wollen. Eine großartige Leistung aller Beteiligten! Bravo.

(RP)
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