Mönchengladbach Manfred Deselaers: Ein Leben in Auschwitz

Mönchengladbach · Um Versöhnung zu predigen, verließ Kaplan Manfred Desealers Gladbach. Er ging nach Auschwitz, wo die Nazis mehr als eine Million Juden umbrachten.

Mönchengladbach: Manfred Deselaers: Ein Leben in Auschwitz
Foto: dpa, Wiener Library, File, Handout

Manfred Deselaers schaut ernst, als er in den Stuhlkreis tritt. Mitten zwischen den jungen Leuten auf den grauen Sitzpolstern klafft noch eine Lücke, und genau in diese setzt er sich. Er lehnt sich zurück und wartet. Deselaers trägt Schwarz, von den Schuhen bis zum Pulloverkragen. In der Mitte des Kreises brennt eine einsame Kerze.

"Auschwitz ist eine offene Wunde"

Er öffnet den Mund und schließt ihn wieder. "Stimmt, ich muss Englisch reden", sagt er wie zu sich selbst. Einige der jungen Zuhörer nicken. Sie kommen aus Russland, Frankreich, Österreich oder Georgien. Einige sind Polen, die meisten stammen aus Deutschland. Es ist eine Gruppe von 22 Studenten und jungen Journalisten, die das Maximilian-Kolbe-Werk auf eine Reise nach Oswiecim eingeladen hat. Die deutsche Ortsbezeichnung "Auschwitz" verwendet man im Polnischen nur noch für das Areal, auf dem früher die Konzentrationslager standen, heute ist es eine Gedenkstätte.

Das Stammlager Auschwitz I ist nur ein paar Schritte von dem Haus entfernt, in dem der Stuhlkreis steht. Es wird still. "Auschwitz is an open wound", sagt Deselaers, Auschwitz ist eine offene Wunde. Sein Englisch ist flüssig, auch wenn sich das "r" nicht so recht rollen lassen will. Manchmal wechselt er ins Deutsche oder Polnische. Eineinhalb Stunden lang spricht Deselaers über das, was Auschwitz zur Wunde macht. Von den mindestens 1,1 Millionen Menschen, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden oder an Hunger, Kälte und Erschöpfung starben.

Von den jüdischen Frauen, Alten und Kindern, die aus dem Zug in die Gaskammern geschickt wurden. Und er spricht über mordende Besatzer und deutsche Zivilisten, die in Auschwitz wohnten und mit dem Grauen Tür an Tür lebten, ohne etwas zu tun.

Seit 24 Jahren lebt er dort

Seit 24 Jahren lebt Deselaers in Oswiecim, vorher war er Kaplan in Mönchengladbach. Er arbeitet im "Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim", einem katholischen Gästehaus am Rande des Ortes. Er predigt Versöhnung in polnischen Dörfern, die die Nazis niedergebrannt haben. Er spricht mit betagten Polen, die sahen, wie SS-Leute wehrlose Frauen und Kinder erschossen. Einige Holocaust-Überlebende zählt er zu seinen Freunden.

In Deselaers' Arbeitszimmer steht eine wuchtige Holztruhe, darauf türmen sich Bücher mit dunklen Einbänden und Papierstapel. Seitdem er in Oswiecim ist, beschäftigt er sich wissenschaftlich mit der Frage, wie es zu der "Wunde Auschwitz" kommen konnte. Seine Doktorarbeit schrieb er über Gott und das Böse im Hinblick auf Rudolf Höß, den Lagerkommandanten von Auschwitz. Viele Jahre lang hielt er an der Universität Krakau Vorlesungen, zum immer gleichen Thema: "Theologie nach Auschwitz".

Begegnungen zu ermöglichen ist seine Lebensaufgabe

Über die Jahre hat Deselaers für sich eine Erklärung für die Wunde gefunden. An diesem Abend Ende Januar erzählt er auch den jungen Leuten auf den grauen Stühlen davon. "Die Nazis haben versucht, ihre Opfer vollkommen zu entmenschlichen. Im Lager waren sie keine Personen mehr, sondern nur noch Häftlingsnummern." Erst dadurch hätten die Täter alle Beziehungen zu den Opfern kappen und sie schließlich töten können. Dass neue menschliche Beziehungen entstehen und bleiben, dafür will Deselaers sorgen. Nur so, glaubt er, kann die Gefahr einer ähnlichen Katastrophe dauerhaft gebannt werden.

Solche Begegnungen zu ermöglichen, das hat er sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht. In das Gästehaus in Oswiecim kommen Schulklassen und Studiengruppen aus aller Herren Ländern, Deselaers hält ihnen Vorträge, die er von seinem Büro im zweiten Stock aus vorbereitet. "Manchmal bin ich auch einfach nur da. Es genügt schon, wenn man einfach nur da ist."

Neben der Journalistengruppe flitzen gerade Schüler aus Kerpen durch die Hausflure. Um die jungen Leute sorgt sich Deselaers besonders. "Für viele von ihnen ist das Grauen des Zweiten Weltkriegs schwer vorstellbar. Die letzte Generation derjenigen, denen Opa und Oma vom Krieg erzählten, stirbt gerade aus." Dann, könnte man mit Deselaers sagen, droht wieder die "Gefahr der Entmenschlichung".

Desealers versteht die Kunstwerke der Überlebenden

Am Morgen nach dem Vortrag führt er die jungen Leute zu einem Kellergewölbe. Deselaers trägt wieder Schwarz und auf dem Kopf eine Wollmütze. Es sind zehn Grad unter Null. "Be careful, es ist glatt", warnt er, dann geht es die vereisten Stufen hinunter. An den Kellerwänden hängen Bleistiftzeichnungen. Sie zeigen die leeren Augen schreiender Menschen, ihre Bäuche sind aufgebläht vor Hunger. Die Gesichter sind aschfahl und rissig, wie alte, bröcklige Mauern. Die Zeichnungen zeigen die Zustände in den Konzentrationslagern aus der Sicht von Marian Kolodziej, dem Häftling mit der Nummer 432. Mit dem ersten Deportationszug kam er 1940 nach Auschwitz. Bei seiner Befreiung 1945 in Mauthausen wog er 36 Kilo.

Mit den Fingerspitzen fährt Deselaers an ausgemergelten, grauen Körpern entlang. Zu jedem Bild kennt er eine Geschichte und eine Interpretation. "Für Manfred, der meine Arbeiten versteht", das hat ihm der Künstler Kolodziej einmal als Widmung in ein Buch geschrieben. "Wir waren keine Freunde, aber gute Bekannte", sagt Deselaers und lächelt stolz.

Ein Grabstein von 2009 mitten in der Ausstellung

Vor einem Bild bleibt der Priester besonders lang stehen. Es zeigt den Häftling mit der Nummer 432 auf der Stirn, wie er einen leblosen Körper auf seinen ausgestreckten Armen vor sich her trägt. Es ist Kolodziej selbst, auf seinem Gesicht steht ein Schmerzensschrei. "Marians Aufgabe war, die Leichen aus der Gaskammer ins Krematorium zu bringen. Eines Tages fand er seinen besten Freund unter den Toten."

Marian bahrte ihn auf seinen Armen auf, statt seinen Leichnam wie die anderen bloß fortzuzerren. "So wollte er ihm die letzte Ehre erweisen", erklärt Deselaers. 2009 ist Marian Kolodziej verstorben. Vor seinem Grabstein mitten in der Ausstellung lässt Deselaers die Gruppe anhalten, zur Gedenkminute. "Marian hat immer gesagt: Auschwitz ist nicht vorbei. Was früher Zyklon B (das tödliche Gift, das in den Gaskammern verwendet wurde, Anm. d. Red.) war, ist heute die Atombombe." In solchen Momenten wirkt es, als entstünde ein Graben zwischen Deselaers und seinen jungen Zuhörern.

Deselaers geht allein, schweigend

Für sie klingt "Atombombe" nach Kaltem Krieg, dabei sind viele von ihnen erst um 1990 geboren, als der schon vorbei war. Ihre Realität ist eher diejenige, in der man sein Erasmus-Semester ganz selbstverständlich in Italien verbringt oder in Tschechien ein Praktikum macht, in der es keine Grenzen mehr gibt. Sie haben andere Ängste, aber sie spüren keine permanente Bedrohung.

Manche der jungen Leute haben sich in der Ausstellung von der Gruppe entfernt. Auf dem Rückweg zum Reisebus geht Deselaers schweigend allein, die jungen Leute reden laut durcheinander. In diesem Mai wird er 60 Jahre alt. Beinahe sein halbes Leben hat er in Oswiecim verbracht. Er ist wohl der einzige Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg, der das getan hat, der sein Leben der Erinnerung an das Grauen verschrieb.

Auch am dritten Tag, an dem man ihn sieht, ist er von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Ist er manchmal einsam? Deselaers überlegt einen Moment, dann schiebt er die Frage beiseite. "Ich glaube, andere Menschen sind einsamer. Ich habe hier einen Auftrag." Und dieser dauere noch bis 2018. "Mindestens."

(RP)
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