Serie Denkanstoss Mehr als nur Gurkenkrümmung

Mönchengladbach · Martina Wasserloos-Strunk richtet sich mit ihrem heutigen Beitrag an die Europa-Kritiker. Bei allen Schwierigkeiten: Die Vorteile des europäischen Projekts, schreibt sie, überwiegen die Nachteile bei weitem.

Wissen Sie, was mich wirklich richtig nervt? Aber so richtig? Das ist das Gerede über Europa!

"Europa in der Krise!" - "Europa hat doch noch nie funktioniert!" - "Europa ist ein Saftladen!" - "Europa brauchen wir doch gar nicht - da will doch nur jeder seine Interessen durchsetzen!" - "Europa kostet nur Geld!" ...

Man hat das Gefühl, dass die ewigen Europanörgler froh sind, dass wir in Europa zur Zeit Mühe haben, eine gemeinsame Herausforderung zu bewältigen: mit allen Schwierigkeiten, Beklopptheiten und Egoismen, die das so mit sich bringt. SIE haben es ja schon immer gewusst: Die Miesepeter und Kristallkugelgucker werden nicht müde Europa totzureden.

Ehrlich: Was ist das für ein Quatsch?

Mein Opa ist noch in den Krieg gegen Frankreich gezogen - meine Kinder fahren zum Schüleraustausch nach Paris und bringen ihre französischen Freundinnen Monique und Bernadette gleich mit. Natürlich sprechen sie alle zusammen Französisch - oder eben Englisch, geht beides.

Mit meinen griechischen Freunden skype ich, meine niederländischen Nachbarn arbeiten in einem Schuhgeschäft in der Stadt, die Kinder von gegenüber studieren in Madrid.

Wir leben seit 70 Jahren im Frieden. Wir fahren durch Europa, ohne an einer Grenze Papiere haben zu müssen. Wir kennen Gulden und Lira nur noch von früher - was waren noch mal "Umrechnungstabellen"? Wir telefonieren vom Mittelmeer nach Giesenkirchen und bezahlen drei Cent oder auch gar nichts, je nach Vertrag. Wir kaufen in Athen bei Lidl ein und können uns ziemlich gut darauf verlassen, dass die Fleischqualität so ist wie bei unserem Metzger um die Ecke. Danke Europa!

Dass die Menschen, die nun aus den verschiedensten Gründen zu uns kommen, eine organisatorische und natürlich auch kulturelle Herausforderung darstellen - die in ihrer Dimension mit der viel bespotteten Gurkenkrümmung nichts mehr zu tun hat -, dass wir neu verhandeln müssen, wie und von wem in Europa Verantwortung übernommen werden muss und wie die besonders betroffenen Länder Unterstützung bekommen können, das ist doch klar und ganz selbstverständlich. Es ist auch klar, dass die Länder, die besonders betroffen sind - zum Beispiel Italien und Griechenland - die Solidarität und finanzielle Hilfe derer brauchen, die weniger belastet sind. Und natürlich müssen wir Acht geben, dass da nicht Verteilungskämpfe entstehen. Schön, dass alle Flüchtlinge zum Spiel der Borussia eingeladen waren - vielleicht dürfen beim nächsten Mal die Kunden und Kundinnen der Tafel kommen?

Viel mehr als solche Fragen macht mir Sorge, wenn Europa in Marokko Zäune mit Rasierklingen baut oder Flüchtlinge nachts in der Wüste aussetzen lässt. Das hat nichts mit den Grundwerten Europas zu tun und ist einfach nur hilflos und niederträchtig.

Also bitte, liebe Schwarzseher und Bedenkenträger: Hört auf mit dem Geunke! Geht lieber wählen und bestimmt Europapolitik mit - und hört auf, dieses tolle Projekt mies zu reden!

DIE AUTORIN IST LEITERIN DER PHILIPPUS-AKADEMIE DES EVANGELISCHEN KIRCHENKREISES.

(RP)
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