Gastbeitrag Zur Heimat-Serie Meine Heimat Hermges

Mönchengladbach · Thomas M. Claßen, Vorstandsmitglied des ADFC Mönchengladbach, wuchs haarscharf an der ehemaligen Stadtgrenze zwischen Mönchengladbach und Rheydt auf. Der Krimiautor ("Felgenkiller") erinnert sich an seine Kindheit und Jugend.

 Der zehnjährige Thomas M. Claßen in der Wildnis, wo heute der Fachbereich Wirtschaft der Hochschule Niederrhein steht, im Hintergrund der denkmalgeschützte Teil des Polizeipräsidiums.

Der zehnjährige Thomas M. Claßen in der Wildnis, wo heute der Fachbereich Wirtschaft der Hochschule Niederrhein steht, im Hintergrund der denkmalgeschützte Teil des Polizeipräsidiums.

Foto: T. Claßen

In meiner ältesten Erinnerung an meine Heimat auf der oberen Webschulstraße fahre ich auf Rollschuhen, die noch mit eisernen Klammern an meinen Schuhen hingen, in rasendem Tempo den Bürgersteig herab, greife unten mit einer Hand das Straßenschild und schaffe so eine scharfe Linkskurve in die noch heute schönste Allee der Stadt.

Da war ich wohl so sieben oder acht und bin aufgewachsen, wo heute mehr und mehr der Campus der Hochschule entsteht. Das war die Zeit, in der die nahe Stadtgrenze zu Rheydt für uns Kinder eine gefährliche Zone war, weil diesseits oder jenseits der Zonengrenze wurde möglicherweise verhauen, wer auf der falschen Seite wohnte.

Gastbeitrag Zur Heimat-Serie: Meine Heimat Hermges
Foto: Alois Müller

Die verschlungenen Gänge und Räume der alten Webschule waren unser Spielplatz, mein bester Freund, der Sohn des Hausmeisters, lebte in dem wunderschönen Eckhaus, das noch heute das Entree der Straße prägt. Auf der anderen Seite der Allee, wo heute der Fachbereich 08 sein stattliches Domizil hat, lag unsere Wildnis, der äußerste Bereich des alten Gartens, der zu Beginn der sechziger Jahre schon verlassen und für uns Kinder streng verboten war. Doch von der früheren Landwirtschaftsschule gelangten wir stets ungestört auf das naturbelassene Gelände, bauten dort Baumhäuser, als der Terminus Abenteuerspielplatz noch nicht im Duden stand, oder zündelten ohne Zündhölzer nach der höchst mühsamen Karl-May-Methode. Aus heutiger Sicht, war es dort wie gemalt für einen neuen Margarethengarten.

Wenige Jahre später, da war ich 15, löste sich die Stadtgrenze für mich in Wohlgefallen auf und ich habe sie seitdem nie mehr wirklich wahrgenommen und verstanden. Meine Freunde besuchten da längst das "Hugo" und ich die Realschule an der Volksgartenstraße. Kulturell war ich in dieser Zeit eher Rheydter. Helmut Jansens Le Cochon mit dem legendären Altgläser-jonglierenden Carlo, der später das Canapé am Alten Markt übernahm, war unser Wohnzimmer, auch wenn diesen Ausdruck für eine Stammkneipe damals noch niemand kannte.

Mein Zuhause blieb lange diese Webschulstraße, auch weil meine älteren Geschwister früh auszogen und mir die Mansarde mit eigenem Eingang über der Wohnung der Eltern überließen. Der Standort war perfekt gelegen, hoch über und gegenüber der damaligen Textilerkantine, wo in jener Zeit die anerkannt besten Feten der Stadt stiegen. Da wurde es regelmäßig laut, ich konnte nicht schlafen und war bald stetiger Gast dieser wunderbaren Szene, obwohl ich nie studiert habe auf der anderen Straßenseite, die da schon Textilingenieurschule hieß.

In der nahen St.-Josefs-Kirche diente ich bei unzähligen Messen und daneben wo heute das Lakum der Hochschule residiert, gab es unseren Jugendclub 35, wo wir anfangs beteten und bastelten und später wild feierten, nach offizieller Lesart ohne Alkohol. An meinem 18. Geburtstag hatte ich den Führerschein in der Tasche und schrottete wenig später meinen ersten Käfer am Schaukasten der Kirche. Pastor Hüpgens stürzte aus der Tür, ärgerte sich lauthals über die regelmäßigen Kurvenraser, erkannte dann mich und verschluckte sich fast an seinem empörten "Thomas?".

Ende der siebziger Jahre beendete ich mein erstes Leben bei der Sparkasse, wechselte an die FOS12 der Kaufmännischen Schulen bei Klassenlehrer Norbert (Noppes) von der Bank und wohnte immer noch bei meinen Eltern. Nach zwei Wochen, ich war da schon stolze fünfundzwanzig, weckte mich mein Vater am frühen Nachmittag und fragte, ob ich denn keine Hausaufgaben machen müsse. Keine zwei Wochen später floh ich in meine erste eigene Wohnung an der Buscherstraße; meine Eltern schenkten mir zum Auszug eine Waschmaschine.

Wenn mich heute jemand fragt, wo ich meine Wurzeln sehe, so nenne ich immer den Teil meiner Heimatstadt vom Buscherplatz bis zur Webschulstraße. Und das einzige, was ich den Müttern und Vätern der kommunalen Neugliederung von 1975 wirklich übel nehme, ist, dass sie mein "Hermges" im offiziellen Stadtplan getilgt haben.

(RP)
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