Mönchengladbach Lieber tot, als mit dem Goldfisch leben

Mönchengladbach · "norway.today", das Erfolgsstück von Igor Bauersima, ist jetzt auch am Theater Mönchengladbach angekommen. Im Studio finden Helen Wendt und Jonathan Hutter unter der Regie von Sascha Mey zu berückendem Spiel.

 Julie (Helen Wendt) und August (Jonathan Hutter) planen den gemeinsamen Abgang aus der Welt.

Julie (Helen Wendt) und August (Jonathan Hutter) planen den gemeinsamen Abgang aus der Welt.

Foto: © Matthias Stutte

Als "norway.today" 2001 am Schauspiel in Düsseldorf uraufgeführt wurde, schlug es ein wie eine Bombe. Igor Bauersima reüssierte zum neuen deutschsprachigen Dramatiker-Star. Das Stück hatte den Nerv einer jungen, satten, werteverwirrten Generation getroffen. Es wurde überall gespielt, in alle Welt exportiert. Jetzt, 14 Jahre später, überprüft der angehende Regisseur Sascha Mey den Theatertext im Studio des Mönchengladbacher Theaters auf seine Wirksamkeit. Kann die Story von Julie und August, die sich im Chat zum gemeinschaftlichen Selbstmord verabreden und dazu auf eine Klippe an einem norwegischen Fjord reisen, heute noch berühren? Es kann.

Denn wie das so ist: Gute Theaterstücke müssen Schauspielern Futter geben. Der Text kann noch so virtuos, tiefsinnig, witzig, relevant, wahrhaftig und was sonst noch sein - wenn die Schauspieler ihn nicht mit Leben füllen können, bleibt er tot. Bauersima, in Wien heimischer Tscheche, gelingt diese Kunstfertigkeit eben bravourös. Man muss dazu nur die ernsthafte Lust miterleben, mit der in Meys Inszenierung Helen Wendt als lebensüberdrüssige Julie und Jonathan Hutter als gar nicht dummer August in die Rollen finden. Klar, den "Jungen" im Ensemble sind die Figuren nah. S

 Ein Gerüst dient Jonathan Hutter und Helen Wendt als Multifunktions-Spielfläche. Mal befinden sie sich in einem Internet-Chatroom, mal auf dem Felsplateau eines norwegischen Fjords.

Ein Gerüst dient Jonathan Hutter und Helen Wendt als Multifunktions-Spielfläche. Mal befinden sie sich in einem Internet-Chatroom, mal auf dem Felsplateau eines norwegischen Fjords.

Foto: Matthias Stutte

ie wissen auch aus eigener Erfahrung: Die neuen sozialen Medien können einsam machen, Wirklichkeit und virtuelle Welt verschwimmen. Helen Wendt entdeckt für diese Julie, der das Leben ein Fake ist, viele ihr aus der Seele sprudelnde Farben, die hinter der Lust auf Tod von der Sehnsucht nach Glück und Leben sprechen. Sie zickt, brüllt, verletzt - und ist doch weich und verletzlich ganz selbst. Und wenn sie am Ende des 90-Minuten-Dramas echte Tränen vergießt, dann springt die ganze Wahrhaftigkeit des Stücks in den Saal über.

Jonathan Hutter darf ein bisschen naiv sein in der Rolle des Selbstmord-Mitläufers, der einen zehn Sekunden tiefen Sprung ins Meer dem Zusammenleben mit seinem Goldfisch vorzieht. Beide, das ist ja der Witz des Stücks, werden vom wahren Leben überrascht, dieser lebensbejahenden, Zukunft fordernden Liebe zueinander, die ihr Vorhaben unterminiert. Und beide gestalten die vielen witzigen und aberwitzigen Situationen auf dieser von Udo Hesse gebauten Gerüst-Klippe vor Reisebüro-Plakat mit großem Sinn für Tempo, Tiefsinn und Pointen.

Mey fördert und fordert seine Schauspieler, inszeniert Chatroom und Liebesakt keck als Schattentheater, geht virtuos mit dem Baugerüst um, das den abgründigen Spielort bildet. Seine Bühnen-Musik zielt ins Herz der Zeit. Bauersimas Stück pendelt so höchst unterhaltsam zwischen Philosophie und Burleske, zwischen Jugendstück und Endzeitdrama. Das sollte man erleben. Die Premierenbesucher waren vor Begeisterung jedenfalls kaum zu halten.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort