Serie Denkanstoss Perspektivwechsel

Mönchengladbach · Autor Stephan Dedring schaut die Fußball-Europameisterschaft auf "MyView". Dort lassen 15 Kameras aus 15 unterschiedlichen Positionen 15 unterschiedliche Sichtweisen auf das Spiel zu. Faszinierend.

 War es abseits - oder nicht? Eine Frage der Perspektive...

War es abseits - oder nicht? Eine Frage der Perspektive...

Foto: Imago

Zu den Spielen der Fußball-Europameisterschaft wird uns derzeit neben den Fernsehbildern ein weiterer Service geboten: im ZDF heißt er "MyView". Über das hinaus, was der Regisseur entscheidet, kann man im Internet selbst wählen, aus welcher von 15 Kameraperspektiven man Szenen des jeweiligen Spiels betrachten möchte.

Die unterschiedlichen Perspektiven weiten den Blick über das "normale" Fernsehbild hinaus: Wie viel sieht der Torwart? Wie weit rücken die Abwehrspieler nach vorne? Welchen Einfluss nimmt der Trainer am Spielfeldrand? Die Spielszenen sehen je nach Perspektive immer etwas anders aus. Solche Vielfalt der Perspektiven macht auch unser gesellschaftliches Leben im modernen demokratischen Rechtsstaat aus. Wie schätzen wir die Entwicklungen ein? Wie wollen wir Herausforderungen begegnen? "Wir müssen reden, Leute", sagte Bundesjustizminister Maas neulich in einem Zeitungsartikel: Wie begegnen wir der demografischen Entwicklung? Wie gelingen Integration und Inklusion? Was macht "deutsch sein" heute eigentlich aus?

Wir brauchen den Dialog der verschiedenen Perspektiven und Antwortversuche. Das ist manchmal anstrengend. Aber der Rückzug auf nur eine Perspektive führt zu Vorurteilen und Abschottung: wer immer nur "Lügenpresse" brüllt, blockiert. Wer zu Gewalt aufruft, steuert keine Perspektive bei, sondern begeht eine Straftat.

Wenn nur eine Perspektive verordnet wird, führt das immer zu Diktatur und Gewalt. Um solche Herrschaft über alle Perspektiven bemüht sich die Propaganda, zur Zeit wieder besonders heftig in Russland und auch in der Türkei mit Übergriffen sogar auf deutsche Bundestagsabgeordnete. Das ist nicht akzeptabel. Denn die vielen Perspektiven zum Fußballspiel im Internet bieten noch etwas: Sie schaffen mehr Klarheit. Erst beim Ansteuern verschiedener Kameras zeigt sich jeweils, ob es Abseits war oder vielleicht doch ein Foul.

Schon im Neuen Testament finden sich vier Evangelien, die alle aus ihrer je eigenen Perspektive das Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu Christi berichten. Interessanterweise hat man damals darauf verzichtet, nur ein Evangelium in die Bibel aufzunehmen oder aus allen ein einziges zusammenzuschreiben. Auch in religiösen Fragen lädt die Bibel ein, dass wir unsere eigenen Perspektiven auf Gott gewinnen und diese bereichernd für alle in den Dialog einbringen. Religion darf nicht zur Ideologie verkommen! Wenn wir aber auch religiös aufmerksam unsere Perspektive einnehmen und austauschen, sind wir bestens gerüstet für den gesellschaftlichen Dialog. Dann können Kirchen und Religionsgemeinschaften dem friedlichen Dialog der Gesellschaft helfen, wie wir es mit der Interreligiösen Konferenz Mönchengladbach versuchen. "Wir müssen reden, Leute" - es lohnt sich!

STEPHAN DEDRING IST PFARRER DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE RHEYDT.

(RP)
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