Serie 55 Dinge, die man in Mönchengladbach erlebt haben sollte (28) Schützenfest: Tradition 2.0

Mönchengladbach · Holzvogel, Klompen, Krepp-Röschen: Das gibt es in Gladbach in den ländlichen Stadtteilen und in der City. Und das ist gut so. Denn Schützenfeste sind weit mehr als nur eine ausgelassene Feier. Sie sind Kitt einer Gesellschaft mit immer mehr Rissen.

 Keine reine Männersache ist das Schützenbrauchtum: Auch die Schützenschwestern marschieren bei den Paraden Seite an Seite.

Keine reine Männersache ist das Schützenbrauchtum: Auch die Schützenschwestern marschieren bei den Paraden Seite an Seite.

Foto: Detlef ilgner

Dass Mönchengladbach die einzige Großstadt Deutschlands mit über 30 Schützenfesten ist, hat dreieinhalb Gründe. Erstens ist Mönchengladbach von Hause aus keine Großstadt, sondern ein eher lockerer Zusammenschluss dutzender Dörfer. Die ziehen ihren starken Selbstwert aus einem Gemeinschaftsgefühl, das sorgsamer Pflege bedarf.

Das führt zum zweiten Grund: Der Niederrheiner ist ein durch und durch geselliger Zeitgenosse. Während man andernorts über die Jahrzehnte entschied, entweder Karneval oder das Schützenfest groß zu feiern, sind die Mönchengladbacher überzeugt, dass zweimal zu feiern mehr als doppelt so effizient ist, wie nur ein Mal zu feiern und stellen zwischen Mai und September ihre Festzelte auf.

Das liegt drittens auch daran, dass die Mönchengladbacher wissen: Wer wo hin will, sollte als erstes mal wissen, wo er herkommt. Je rasanter sich technische Möglichkeiten und persönliche Freiheiten in allen Lebensbereichen wie in einer Zentrifuge drehen und Fliehkräfte entwickeln, desto sorgsamer pflegt der Niederrheiner als gesunde Gegenreaktion seine Traditionen. Und das heißt zum Beispiel: Seinen Schützenzug finden, sich in eine grüne, blaue oder rote Uniform stecken, Röschen aus Krepp für die Königsresidenz drehen, auf einen Holzvogel schießen, das Königssilber putzen, bei der Parade entweder im Gleichschritt mitziehen oder am Straßenrand klatschen, in die Schützenmesse gehen und in dicken Holzschuhen tanzen — kurz und gut: Schützenfest feiern.

Dieses Programm ist in manchen der 39 Bruderschaften, die es in Mönchengladbach und Korschenbroich gibt, seit Jahrhunderten sehr ähnlich und würde auch ohne den dreieinhalbten Grund funktionieren. Mit ihm funktioniert es allerdings noch besser. Bezirksbundesmeister Horst Thoren hat das Schützenbrauchtum geschickt in die Jetzt-Zeit übersetzt und hält es mit List und Geschick fürs Marketing im Gespräch: bei den Besuchern der Schützenfeste und bei den Sponsoren. Er hat nicht nur das weltweit erste Schützen-Kochbuch auf den Markt gebracht, eine App mit Fitness-Programm speziell für Schützen entworfen, einen Schützen-Knigge geschrieben, zwei Handpuppen als sympathische Repräsentanten fürs Sommerbrauchtum produzieren lassen und ein Schützenvogel-Spiel für Kindergärten erfunden. Er hat vor allem ein Event wiederbelebt, bei dem aus all den vielen kleinen Schützenfamilien eine beeindruckend große wird.

Beim Stadtschützenfest am ersten September-Wochenende wird erst aus allen Königen und Königinnen der Bezirkskönig ermittelt. Und bei der abschließenden Parade marschieren mehr als 2500 Schützen und Musiker über die Hindenburgstraße. Dass der Oberbürgermeister vorne weg im grünen Schützenrock auf dem Pferd reitet und viele Prominente in prächtigen historischen Uniformen in Kutschen mitziehen, zeigt, welche Bedeutung die Schützen für die Stadt haben.

Die Schützenfeste bieten etwas Einzigartiges, das die virtuelle und überhitzte Welt so nicht kennt: das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. In der Parade marschiert Fußball-Weltmeister Rainer Bonhof in Schützenuniform ganz selbstverständlich mit Fritz Schmitz und Lieschen Müller. Das Netzwerk, das die Schützen weben, ist viel tragfähiger, als dass es nur ein Festwochenende hielte. Die Schützenbrüder und -schwestern marschieren nämlich nicht nur in guten, sondern auch in schlechten Zeiten Seite an Seite. Und so sind die vielen Schützenfeste in der Stadt weit mehr als mal ausgelassene, mal würdige, mal religiöse Mehr-Tages-Feier. Sie sind wichtiger Kitt einer Gesellschaft mit immer mehr Rissen. Drum kann sich gerade eine Großstadt glücklich schätzen, ein so lebendiges Schützenbrauchtum zu haben.

Stadtschützenfest Erstes September-Wochenende: auf dem Kapuzinerplatz, Informationen unter www.bruderrat-online.de

(RP/ac)
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