Serie Gladbacher Lesebuch (19) Unfall mit einem englischen Soldaten

Mönchengladbach · Wolfgang Hellfrisch erinnert sich an einen ungeplanten Besuch im Hauptquartier. Paul Sonn berichtet über Ferienerlebnisse in den 1960ern.

 Wolfgang Hellfrisch war in den 1950er Jahren mit seinem Goggo unterwegs. Einmal hatte er einen Unfall mit einem englischen Soldaten.

Wolfgang Hellfrisch war in den 1950er Jahren mit seinem Goggo unterwegs. Einmal hatte er einen Unfall mit einem englischen Soldaten.

Foto: Hellfrisch

Hauptquartier In den 1950er Jahren setzte die Nachkriegs-Motorisierung Westdeutschlands ein mit teils abenteuerlichen, heute fast nur noch im Automobilmuseum zu besichtigenden Kleinstwagen. Manche sahen so aus, wie es ihr Name erwarten ließ. Fahrzeuge wie der Leukoplastbomber von Lloyd bestimmten Gladbachs Straßenbild mit, ebenso wie das Mäuschen Topolino von Fiat, der dos-á-dos sitzige Zündapp Janus, der 60 km/h langsame, aber damit autobahntaugliche Einzylinder-Zweitakter Kleinschnittger, der 75 Stundenkilometer schnelle und einem Flugzeugrumpf ähnelnde Messerschmitt Kabinenroller, die dreirädrige Heinkel Kabine, der Champion 400, die Kabrio-Limousine Gutbrod Superior, der Victoria Spatz, das 6,5 Pferdestärken schwache Fuldamobil, die frontbestiegene BMW Isetta, die brettharten Mini-Sportwagen von MG, Austin Healey und Triumph und natürlich mein 250er Goggomobil eines Dingolfinger Landmaschinenherstellers. Wer dafür keine 2990 Mark hinblättern konnte, unterschrieb - die Ratenzahlung war noch nicht erfunden - 24 Wechsel.

 Der autobahntaugliche Einzylinder-Zweitakter Kleinschnittger gehörte in den 1950ern zum Straßenbild. Er fuhr 60 Stundenkilometer schnell.

Der autobahntaugliche Einzylinder-Zweitakter Kleinschnittger gehörte in den 1950ern zum Straßenbild. Er fuhr 60 Stundenkilometer schnell.

Foto: Malz

Wollte jemand in meiner Jugend ausdrücken, jemand sei mit einer Irrsinnsgeschwindigkeit unterwegs, sprach er respektvoll von "mit sechzig Sachen" und bis September 1957 gab es auch noch keine Notwendigkeit für eine innerörtliche Geschwindigkeitsbegrenzung. Mein Goggo war immerhin schon für 85 km/h gut. Unzählige Erinnerungen hängen an dem Wägelchen. Wenn man es einmal nicht dort wieder fand, wo man es abgestellt hatte, musste man nicht gleich argwöhnen, es sei geklaut worden. Vielleicht hatten es nur gute Freunde weggetragen. Oder diese Heimfahrt von Aachen. Normalerweise liebte ich ja Rückfahrten von dort, weil sich dann dem 15-PS-Zweitakt-Motörchen mit Westwind im Rücken mühelos 85 km/h entlocken ließen, die allerdings bei hochsommerlichen Temperaturen gelegentlich zu Kolbenklemmern führten, denen man mit Bürste und Geduld zu Leibe rücken musste, um die Zündkerzen nach ausreichender Motorabkühlung zu reinigen. Fuhr ich dagegen von Gladbach Richtung Aachen, zwang mich der gleiche Westwind unerbittlich vom vierten in den dritten Gang zurück.

Diesmal tauchten auf der Heimfahrt plötzlich aus dem dichten Nebel zwei Lichter vor mir auf, die gefühlte Zehntelsekunden später frontal auf meinen Wagen prallten. Ich hatte Mönchengladbachs Randbezirke erreicht, gerade eine langgestreckte Rechtskurve im Schneckentempo durchfahren, mich eng am rechten Rand der Fahrbahndecke orientiert und trotzdem fuhr mir einer, wenn auch mit mäßigem Tempo, frontal auf. Während ich noch geschockt und irritiert hinter dem Lenkrad verharrte, setzte mein Kontrahent bereits zurück und war auf und davon. CS 34 B erkannte ich so gerade noch im Licht meiner Scheinwerfer. Auch das noch! Ausgerechnet ein Angehöriger der britischen Rheinarmee aus dem nahegelegenen Hauptquartier, der sich wohl bei dem Nebel wie zuhause in Old England fühlte.

Als Achtjähriger hatte ich schon eine Begegnung mit einem eiligst verschwindenden Engländer hinter mir, dem eine deutsche Messerschmitt im Nacken saß, nachdem er zuvor meinen Vater und mich aus seiner Spitfire heraus unter Beschuss genommen hatte, den nur ich überlebte. Ein irrwitziger Gedanke: Könnte es wieder derselbe sein? Was tun? Die Polizei rufen? Für das Handy war es Jahrzehnte zu früh, und eine Telefonzelle hätte ich bei diesem Nebel nicht gefunden. Der Unfallverursacher war sowieso weg, Spuren gab es keine, Verletzte auch nicht, und in Anlehnung an Heinz Erhards Ritter Fips fand ich: Der Blechschaden war nur gering. Also fuhr ich vorsichtig nach Hause und am nächsten Morgen zur Polizei, wo man mich belehrte: "Wir ermitteln nicht gegen Angehörige der Siegermächte. Melden Sie den Schaden einfach Ihrer Versicherung."

Zwar existierte seit 1949 die Bundesrepublik Deutschland, aber auch das Besatzungsstatut, in dem sich die Sieger zur Wahrung ihrer Interessen das Recht, in die Regierungsgewalt einzugreifen, vorbehielten, und einen der ihren vor den Deutschen zu schützen, lag in deren Interesse. Ich musste also selbst ins Hauptquartier, um den Unfallschaden zu dokumentieren, ehe der Wagen repariert ist, die Unfallbeteiligung bestritten wird und Aussage gegen Aussage steht. Ein im Hauptquartier beschäftigter deutscher Autoschlosser würde mir sicher dabei helfen. Ich kannte ihn aus der Fahrschule, wohin er stets aufgrund seiner britischen Militärfahrerlaubnis im tarnfarbenen Jeep angefahren kam, so auch am Prüfungstag, wo er mit Pauken und Trompeten durchfiel und unbeeindruckt im Jeep heimfuhr.

Im Hauptquartier eskortierten mich zwei Soldaten, einer rechts, einer links mit Knarren im Arm ins Büro eines Captains, der mein Schulenglisch auf eine harte Probe stellte, denn das zur Beschreibung einer Fahrerflucht nötige Vokabular gehörte seinerzeit nicht zum gymnasialen Unterrichtsstoff. Nach meiner Schilderung langte der Captain in seine Schublade. Jetzt holt er die Pistole raus und jagt mich von dannen, dachte ich. Doch es waren die Fahrzeugpapiere des Unfallverursachers, der seinem Vorgesetzten bereits gebeichtet hatte. "Zeigen Sie den Schaden Ihrer Versicherung an", beschied mich der Captain, und ich war grußlos und ohne Handschlag entlassen. Für mehr lag der Krieg noch nicht lange genug zurück. Die Schadensregulierung verlief problemlos, womit mein Interesse an sich aus dem Staub machende Angelsachsen erlosch.

(RP)
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