Serie Gladbacher Lesebuch (12) Von Drachen, Nachbarn und Salamibrot

Mönchengladbach · Fünf Autoren erzählen in dieser Folge des Lesebuchs aus ihren Erinnerungen. Und nicht immer sind die Anekdoten nett und beschwingt.

 Einen eigenen Garten zu haben, war in den 1950er Jahren wertvoll. Und natürlich war man darauf stolz.

Einen eigenen Garten zu haben, war in den 1950er Jahren wertvoll. Und natürlich war man darauf stolz.

Foto: Schwiers

Lürrip Geboren wurde ich in Lürrip. Wir wohnten am Beekerkamp, einer Straße, die ein bisschen außerhalb liegt. Eine Reihe von acht Häusern für kinderreiche Familien gebaut, und es waren auch sehr viele Kinder dort zu Hause. In jedem Haus waren vier Familien, in unserem alleine wohnten 20 Kinder. Wir wurden oft von der Nachbarin zum Essen eingeladen. Wir waren wie eine große Familie. Wir wohnten in einer kleinen, engen Drei-Zimmer- Wohnung. Platz zum Spielen war nicht vorhanden, alles spielte sich auf der Straße ab. Nach meinem sechsten Geburtstag starb mein Vater und ließ eine große Familie zurück. Die Not zog ein, aber wir Geschwister hielten zusammen und meisterten auch diese Situation.

 In der Gegend, in der Edith Schwiers aufwuchs, lebten damals viele Familien, die viele Kinder hatten.

In der Gegend, in der Edith Schwiers aufwuchs, lebten damals viele Familien, die viele Kinder hatten.

Foto: Edith Schwiers

Die Sommerabende blieben mir immer besonders in Erinnerung. Wir durften dann in den Ferien länger aufbleiben und saßen mit unserer Mutter auf den Stufen vor dem Haus und unterhielten uns mit den Nachbarn. Nebenan spielte jemand Schifferklavier, es wurde gesungen, und die Kinder hatten Spaß. Gerne würde ich so einen Abend noch einmal erleben. Hinter unserem Haus war eine große Wiese, die vom Bauern nicht mehr bewirtschaftet wurde, der ideale Spielplatz für uns Kinder. Hier wurde Fußball gespielt. Die Mädchen kamen mit ihren Puppenwagen, haben Glanzbilder getauscht und im Herbst den Drachen steigen lassen. Die Drachen haben wir uns immer selber gebaut. Am Ende unserer Straße hatte ein Schreiner seine Werkstatt, von ihm bekamen wir die Lättchen zum Bauen des Drachen, geklebt wurde das Zeitungspapier mit Kartoffeln. Als ich ein bisschen älter war, zehn Jahre, wurde am Lauterkamp der erste Spielplatz gebaut. Aber für uns Beekerkamp-Kinder war der Spielplatz tabu, wir wurden immer verjagt. Also gründeten wir unsere eigene Bande, so nannte man das damals, und haben die Lauterkampkinder verhauen. Danach durften wir erst recht nicht mehr dorthin.

 Gespielt wurde auf der Straße. Das war damals noch problemlos möglich.

Gespielt wurde auf der Straße. Das war damals noch problemlos möglich.

Foto: Edith Schwiers

Weiter hinter unserem Haus war ein Hügel. Früher war das eine Kläranlage mit großem Wasserbecken. Ein Nachbarskind ist darin ertrunken. Danach wurden die Becken zugeschüttet und so hatten wir einen kleinen Berg. Im Winter sind wir dann mit dem Schlitten da runter gesaust. Wenn kein Schnee war, sind wir mit einem Pappkarton gerutscht. Es war herrlich, eine unbeschwerte Zeit. Bei uns auf der Straße wurde Nachbarschaftshilfe groß geschrieben. So kam es, dass meine Mutter drei Wochen ins Krankenhaus musste und meine älteren Geschwister konnten uns nicht aufnehmen. Also tat es unsere Nachbarin, die selber fünf Kinder hatte. Wir hatten es gut bei ihr. Ich bekam zum ersten Mal zum Nachmittagskaffee ein Butterbrot mit Salami. Seit dieser Zeit liebe ich Salami.

Ende der 1950er Jahre kam das erste Fernsehgerät in eine Familie. Das war eine Sensation. Wir durften alle die Kindersendung anschauen, mussten dafür aber zehn Pfennig bezahlen, die ich nicht immer hatte. So kam nach und nach in jedes Haus ein Fernseher. Die Antennen auf den Dächern glänzten im Sonnenschein. Wir bekamen 1961 auch einen eigenen Fernsehapparat. Meine Mutter konnte gar nicht mit dem "Ding", wie sie immer sagte, umgehen. Wenn es Probleme gab, musste ich immer helfen.

Mit 15 Jahren durfte ich das erste Mal tanzen gehen. Wir waren bei "Alt Lürrip", so hieß die Gaststätte. Da wurde noch vom Jugendamt kontrolliert, nach 22 Uhr mussten alle Kinder nach Hause. Nur ich durfte noch etwas bleiben, weil meine Mutter mich auf der Toilette versteckte. Ich durfte erst wieder rauskommen, als sie an der Tür klopfte. Wir hatten auch noch andere Kneipen in Lürrip. Aber die haben wir nie besucht. Die vielen Geschäfte, die wir hatten, kenne ich alle nicht mehr beim Namen, aber an eines erinnere ich mich noch gut: Brings, da ging ich immer als Kind für meine Mutter einkaufen. Damals ließen wir noch alles anschreiben, und einmal in der Woche wurde dann alles bezahlt. Ins Milchgeschäft von Frau Ritter ging ich besonders gerne hin. Da wurde die Milch noch frisch abgefüllt, und es roch da immer so gut.

Ich ging auf die Volksschule Uedding. Sie war nur circa 500 Meter von unserer Straße entfernt, deswegen gingen wir natürlich alle zu Fuß. Seit der Schulzeit habe ich Freundinnen, wir sind fünf "Mädels", die sich auch heute noch regelmäßig treffen. Es ist immer wieder schön, wenn wir uns sehen. Sehr gerne denke ich auch an die schönen Martinszüge. Damals gingen noch alle Kinder vom ersten bis zum achten Schuljahr mit. So zogen wir mit unseren selbstgebastelten Laternen durch die Dunkelheit.

Meine Berufsjahre verbrachte ich ebenfalls in Mönchengladbach. Bis ich eine Familie gründete, blieben wir bis 1980 in der Stadt. Dann zogen wir nach Korschenbroich, wo ich heute noch lebe. Manchmal überkommt mich die Sehnsucht nach der alten Heimat. Dann setze ich mich auf mein Fahrrad und fahre "nach Hause". Zum Beekerkamp, zu meiner alten Schule und zum Friedhof, wo das Grab meiner Mutter ist. An solchen Tagen merke ich, wie eng ich doch mit meiner Heimat verbunden bin.

(RP)
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