Mönchengladbach Von Gladbachs Nord- und Südpol

Mönchengladbach · Die RP-Reporter Tim Specks und Nicole Scharfetter gingen auf Expedition und entdeckten das Ende der Welt. Zumindest gefühlt.

Der Himmel ist trüb, die Sicht nicht besonders gut. Immer wieder fallen ein paar Regentropfen auf die Windschutzscheibe meines Fiats. Das Navi sagt, ich soll noch zwei Kilometer fahren, dann habe ich mein Ziel erreicht. Den Nordpol. Zugegeben: Der echte ist es nicht, dort würde ich mit meiner kleinen Knutschkugel auf vier Rädern vermutlich sofort auf irgendeiner Eisscholle einfrieren. Aber für alle, die es nicht wissen: Auch in Gladbach gibt es einen Nordpol. Und natürlich das passende Gegenstück im Süden.

Noch bevor ich an meinem Ziel ankomme - es wird übrigens immer einsamer auf dem Weg dorthin - piept mein Smartphone. Es ist Kollege Tim, der mir viele Grüße von Gladbachs Südpol schickt. "Ich stehe gerade hinter Wanlo am Tagebau Garzweiler", schreibt er. Was für ein Zufall - genau am anderen Ende der Welt, ääähhhhh Stadt. Mich hat die Expedition nach Mackeshütte verschlagen, zum Klärwerk, direkt an der A52. Ich steige aus meinem Auto aus - ganz schön verlassen hier. Und schrecklich laut. Aus den dicken Regentropfen ist feiner Niesel geworden. Keine Verbesserung, wie ich finde. Dieses Wetter geht immer durch und durch. Dann lieber riesige Eisschichten wie am echten Nordpol. Wo die Sonne den Schnee zum Funkeln bringt und der Himmel so blau und klar ist, wie es ihn nirgends sonst gibt.

Tim schreibt wieder. Bei ihm in Wanlo sieht es nicht viel besser aus. Er friert, kann seine Hände wegen der Kälte kaum noch bewegen. Kurzum: Es ist usselig. Und der Ausblick, naja: "Hier gibt es nichts außer einem riesigen Loch und unglaublich großen Baggern." Wie am Ende der Welt sieht es am Südpol aus, schreibt Tim. "Ist die Erde doch eine Scheibe, und hinter Wanlo fällt man ins Weltall?", fragt er mich.

Zumindest riecht es bei ihm besser, nach Erde und Natur. Denn obwohl es bei mir grün ist, stinkt es ganz fürchterlich. Eine Mischung aus Abgasen und... nun ja, Klärwerk eben. Ich wandere am Nordpol ein bisschen auf und ab, komme vorbei an einem Fahrradwegweiser. Nach Süchteln und Wachtendonk geht es in die eine Richtung, nach Willich und Neersen in die andere. Ein Zeichen für Zivilisation? Warum sollten dort sonst solche Schilder angebracht sein? Sicher nicht für das Eichhörnchen, das mit einer Nuss gerade aus dem Wald gehüpft kommt. Menschen allerdings gibt es am Nordpol nur wenige, und wenn, rasen sie in ihren Autos schnell auf der Holperstraße vorbei am Klärwerk, um schnell von hier wegzukommen.

Wieder summt das Handy. Tim. Er fragt, ob ich am Nordpol schon den Weihnachtsmann getroffen habe. Er wünscht sich einen Regenschirm. "Und zwar schnell!!!" Nein, muss ich ihn enttäuschen, getroffen habe ich ihn noch nicht. Aber gut möglich, dass er an Gladbachs Nordpol schon mal unterwegs ist. An einem Baum entdecke ich ein Schuhkarton-großes Spielzeughaus. Eins für ganz kleine Kinder, in das sie verschiedene Klötze schieben können, um die Formen und Farben zu lernen. Vielleicht hat der Weihnachtsmann es dort verloren. Wie sonst sollte das Häuschen hoch oben auf einem Ast gelandet sein? Oder war es die Verzweiflung, die den Weihnachtsmann getrieben hat, die Schuld daran ist, dass das Geschenk auf der Flucht aus dem Sack gefallen ist? Weil es da ja sowieso niemanden gibt außer das Klärwerk? Wo wir gerade von "schnell weg" sprechen: "Wenn die hier so weiterbaggern, gibt's Wanlo in ein paar Jahren nicht mehr", fürchtet Tim. Wir denken nach, schreiben hin und her, stellen uns immer wieder diese eine Frage: Wer von uns beiden hat es besser getroffen? Ich am Nordpol, einem Ort, an dem niemand sein will oder Tim am Südpol, einem Ort, der bald nicht mehr sein wird? Wir kommen ins Grübeln. Vielleicht liegt unser Stimmungstief an dem Wetter. Wenn die Sonne scheint, sieht alles immer besser aus. Jemand sagte mir mal, dass an Wochenenden die Radfahrer nur so über die Holperstaße in Mackeshütte drängeln.

Schluss mit Trübsal blasen. Wir sind einfach zu verwöhnt. Stadtkinder, die immer nur motzen, wenn es mal nicht so läuft wie geplant. Zu jeder richtigen Expedition gehört auch die Forschung. Tiere. Wir suchen jetzt Tiere. "Was siehst du?", frage ich Tim via Whatsapp. Auf Pinguine sei er noch nicht gestoßen, antwortet er mir. Ich bin enttäuscht. Auf der anderen Seite: Am Nordpol in Gladbach hat sich auch noch kein Eisbär gezeigt. Vielleicht ist es noch zu warm für sie, vielleicht halten sie so etwas wie Sommerschlaf, und kommen erst raus, wenn es richtig knackigkalt ist. Dafür steigen aus dem Loch am Südpol ständig Vögel auf. "So richtig sehen, woher sie kommen, kann ich nicht", schreibt Tim. Zu neblig ist es an der Abbruchkante. Während ich auf meinem Handy rumtippe, bemerke ich erst gar nicht, dass ich nicht mehr allein bin. Plötzlich sehe ich, dass mich jemand beobachtet, zwei Augenpaare verfolgen mich regelrecht. Aber kein Mensch. Beruhigt mich irgendwie. Wer verirrt sich schon hierher? Vielleicht schaut mich das Pferd aus diesem Grund so überrascht an, weil es außer seinem Besitzer niemanden kennt, der Mensch ist.

Sofort melde ich Tim meine Entdeckung, begeistern kann ich ihn aber nicht so richtig. Ich solle noch mal genauer hinschauen, ob das Pferd nicht doch ein Rentier ist oder ein schlanker Eisbär. Fehlanzeige. Das Pferd ist ein Pferd, und in Mackeshütte gibt es noch mehr davon, und gleich hinter der Koppel auch noch eine Straße, an der ein paar Häuser gebaut wurden. Mit kleinen Gärtchen, in denen Klettergerüste stehen und Spielsachen verstreut liegen. Also doch Kinder, die am Nordpol leben.

"Wie sieht's bei Dir aus, Tim?", schreibe ich. Eine Weile dauert es, bis meine Nachricht verschickt wird, ich habe schlechten Empfang. Und noch mal genauso lange braucht es, bis ich eine Antwort habe. Kurzzeitig mache ich mir schon Sorgen. "Ich habe einen Segelflughafen entdeckt. Vielleicht komme ich Dich bald mal besuchen." Cool, ist das aber nicht gefährlich, dort über ein Loch zu fliegen, vor allem, wenn dahinter das Ende der Welt ist?

Und plötzlich wird es spannend. Bei mir, in der Einöde. An der Autobahn. Von der Holperstraße aus sehe ich, wie ein Mann in einem teuren Luxuswagen auf den Seitenstreifen fährt. Dahinter ein Bulli. Zivilpolizisten, die dem Mann ein Knöllchen geben, weil er am Steuer telefoniert hat. Ganz schön was los, im Norden von Gladbach. "Ich glaube, für heute habe ich genug gesehen. Nicht, dass ich am Ende noch ins Loch falle", schreibt mir Tim, ganz unbeeindruckt von dem, was ich gerade erlebt habe. Ich warte noch ein bisschen, schaue mir an, wie die Niers vor sich hinplätschert. In den Norden, weiter nach Viersen, dort, wo Mönchengladbach aufhört und eine andere Welt anfängt.

Nord- und Südpol - ein paar Gemeinsamkeiten mit den echten Polen: einsam, irgendwie spannend und am Ende der Welt. Und trotzdem eine Welt für sich, ganz anders als das Zentrum, die Mitte, dort wo sich das Leben abspielt.

(RP)
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