Serie Denkanstoß Wie Angst die Isolation beflügelt

Mönchengladbach · Vor ein paar Wochen war ich in Ungarn. An der Hochschule in Budapest sollte ich mit Studierenden zum Thema "Flucht und Migration" arbeiten. Es ging vor allem darum, zu überlegen, wie die europäischen Länder Verantwortung übernehmen können, ohne sich selbst total zu überfordern. Ein heißes Eisen!

 Ihre kritische Haltung zur Europäischen Union dokumentieren viele Ungarn auch mit Schildern auf ihren Autos.

Ihre kritische Haltung zur Europäischen Union dokumentieren viele Ungarn auch mit Schildern auf ihren Autos.

Foto: Martina Wasserloos-Strunk

Denn die jungen Leute in Ungarn leben mit einer deutlich europakritischen Regierung. Überall auf den Hauptverkehrsstraßen hat die Regierung des Präsidenten Victor Orban Schilder aufgestellt, auf denen "Stoppt die EU" steht - wirklich alle 200 Meter. Die EU, das glauben viele der Studierenden, will die Länder in Osteuropa zwingen, Millionen Flüchtlinge - noch dazu muslimische Flüchtlinge - aufzunehmen. Die Menschen sind unsicher.

"Ist das wirklich gut, was diese Europäische Union uns abverlangt? Müssen wir wirklich Flüchtlinge aufnehmen? Werden wir am Ende alle Muslime sein?" - das fragen sich viele, und gucken gar nicht mehr genau hin, was denn nun wirklich erwartet wird. Im Vergleich zu der großen, herzlichen Hilfsbewegung in Deutschland herrscht dort eine andere Stimmung: Zurückhaltung, ein bisschen Angst - und die große Sorge, dass man irgendwann nicht mehr "Herr im eigenen Land" ist.

Das hat sicher viele Gründe - vor allem historische. Denn so ziemlich jeder in Ungarn hat eine Oma, die davon erzählt hat, dass ihre Oma erzählt hat, wie sie seinerzeit von ihrer Mutter gehört hat, wie damals die Türken im Land gehaust haben. Ob es das in Deutschland nicht auch gebe, werde ich gefragt, und wie wir denn hier damit umgehen, dass die Flüchtlinge machen, was sie wollen?

Es ist schwer, solche Fragen zu beantworten, denn ja - natürlich gibt es auch bei uns Menschen, die sich Sorgen machen, und schlimmer noch, die von ihrer Angst dazu verleitet werden, den politischen Rattenfängern hinterherzulaufen. Und auch ja, auch bei uns gibt es Schwierigkeiten mit Menschen, die zwar hier sind, sich aber nicht an die Regeln halten wollen. Deutschland ist aus Sicht der ungarischen Studierenden, die ich getroffen habe, das Beispiel dafür, wie schlimm es werden kann, wenn man die Fremden reinlässt. Ob Silvesternacht oder Terror in Berlin - sie alle kennen viele Beispiele für schreckliche Ereignisse und wenige für gelungene Nachbarschaft und gelebte Vielfalt. Und an allem ist - das kann man schließlich auf den Schildern am Straßenrand lesen: die EU schuld! Deshalb weg damit! Sagen die jungen Leute.

Dabei haben sie nicht gesehen, dass auf der Schnellstraße, neben dem "Stoppt die EU"-Schild, das Schild steht mit der Aufschrift "Gebaut aus Mitteln der Europäischen Union". Sie haben auch nicht gesehen, dass ihre ehrwürdige alte Universität aus Mitteln der Union restauriert wurde. Und sie finden den Gedanken abwegig, dass es etwas mit der Europäischen Union zu tun hat, dass sie mit einem Erasmus-Projekt durch die europäischen Nachbarländer reisen können.

Ich habe mich sehr erschreckt über diese Stimmung. Und natürlich ein flammendes Plädoyer für Europa gehalten und dafür, selber zu denken und nicht alles zu glauben, was auf Schildern steht, außer man hat es selbst drauf geschrieben. Am Ende des Seminars wurde mir herzlich und etwas mitleidig die Hand geschüttelt. Eine beeindruckende Begegnung.

DIE AUTORIN IST LEITERIN DER PHILIPPUS-AKADEMIE.

(RP)
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