Serie Denkanstoss Wie eine Wurst die Welt veränderte

Mönchengladbach · Fast auf den Tag genau 495 Jahre ist es her, da wagte in Zürich ein kleiner "Leutpriester", Huldrych Zwingli, mit einigen Honoratioren und Geistlichen den Aufstand gegen das kirchliche Establishment. Demonstrativ wurde im Hause des Buchdruckers Froschauer gegen das Fastengebot verstoßen und Wurst gegessen. Froschauer gab später beim Magistrat zu Protokoll, er habe mit seinem Gesinde so viel zu arbeiten gehabt, dass die Fastenspeisen einfach nicht genug gewesen seien. Kann man nachvollziehen. Heute.

Ich gebe zu, in meiner ursprünglichen Vorstellung dieses frevelhaften Vergehens kamen Bilder mit Schüsseln von dampfenden Fleischwürsten vor, an denen sich die Aufständischen ... schmatzend gütlich taten. Heute weiß man, dass es natürlich keine Fleischwürste waren - wer hätte die auch machen sollen in der Fastenzeit? Nein, es war eine - eine! - klitzewinzige Räucherwurst. Die wurde in kleine Stücke geteilt, damit sich möglichst alle Teilnehmer des Mahls solide und demonstrativ versündigen konnten durch ihren Genuss. Es ist so, wie mit mancher Revolutionsgeschichte: In der Rückschau ist alles viel größer und viel gefährlicher. Illusion statt Ideal eben.

Apropos versündigen: Eine Kleinigkeit ist dann doch auch noch zu erwähnen - natürlich nur wegen der Vollständigkeit und wegen der historischen Korrektheit: Zwingli selbst hat nichts gegessen von der Wurst. Warum er verzichtet hat, ist historisch nicht geklärt - vielleicht hatte er Sorge, dass der Wurstgenuss ihn am Ende doch auf direktem Weg ins Höllenfeuer expediert oder der Blitz aus der Wurst schlägt - des Frevels wegen. Oder er hatte einfach Bammel, dass die sowieso schon alarmierte Obrigkeit ihm das Leben schwermachen könnte. Jedenfalls hat er sich gedrückt. Womit er sicher nicht der erste und lange nicht der letzte Drückeberger war.

Warum ist diese Geschichte heute noch von Interesse? Ja, natürlich, weil sie einen wunderbaren Skandal beschreibt, auch wenn die Würze in dieser Wurstgeschichte heute im Zeichen eines "Sowieso-alles-wurscht" Lebensgefühls etwas die Schärfe verloren hat. Trotzdem ging es in Zürich um mehr als die Wurscht. Das Wurstessen war damals ein unfassbarer Tabubruch. Dabei ging es um nichts weniger als die Freiheit. Die Freiheit von Bevormundung durch die Oberen - hier vor allem die Kirche.

Zwingli selbst hat das in einer seiner auf die Aktion folgenden Predigten so gesagt: "Vom Erkiesen und Fryheit der Spysen." Weil das Fasten kein biblisches Gebot ist, stehe es frei zu fasten. Wer fasten wolle, solle es tun. Wer es nicht wolle, solle es lassen, und keinesfalls könne irgendwer daran Anstoß nehmen, wenn man es so oder so macht!

Zwinglis Ausgangspunkt für diese Überlegungen war die genaue Betrachtung der Bibel und dessen, was nun wahr und wahrhaftig darin zu lesen ist. Da stand nun mal nichts drin von Fastenzeit und Hafersuppe. Und auch deshalb war es nur folgerichtig und konsequent, dass alle Reformatoren, Luther, Calvin, Zwingli und die vielen Brüder und Schwestern im Geist, Bildung forderten! Bildung für alle! Lesenlernen für alle - damit die Menschen selber entdecken konnten, was die Heilige Schrift ihnen zu sagen hatte und nicht angewiesen waren auf eine Obrigkeit, die an der Wahrheit der Schrift gerne mal etwas herumschraubte. Evangelische Freiheit - mit dem Evangelium verantwortlich nur vor Gott und frei, seinen Willen zu tun - auch gegen die "Obrigkeit"!

Dann zum Beispiel, wenn Christen öffentlich sagen, dass Abschiebungen nach Afghanistan nicht sein dürfen, wenn man ernst nimmt, dass Gott alle Menschen liebt - sogar die Flüchtlinge. Ein Stückchen auf dem Weg dahin, diese Freiheit erfahren und leben zu können, so wie wir es heute selbstverständlich tun, war der Skandal in Zürich und die kleine Räucherwurst, die die Welt verändert hat.

MARTINA WASSERLOOS-STRUK IST LEITERIN DER PHILIPPUS-AKADEMIE

(RP)
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