Hans Lehmann Wir brauchen hier Zukunftsindustrie

Mönchengladbach · Der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Gladbach über den Mindestlohn, die mangelnde Ausbildungsbereitschaft vieler Unternehmen und den Kampf der Gewerkschaften um neue Mitglieder.

Hans Lehmann: Wir brauchen hier Zukunftsindustrie
Foto: DETLEF ILGNER

Sie waren lange Betriebsratsvorsitzender von Monforts Werkzeugmaschinen. Im letzten Jahr gab es schon die zweite Insolvenz. Wie sehen Sie Ihr früheres Unternehmen jetzt aufgestellt?

Lehmann Es ist sehr schade, wie es bei Monforts gelaufen ist. Die zweite Insolvenz war wohl auf die Ukraine-Krise zurückzuführen. Jetzt haben taiwanesische Investoren den Betrieb übernommen, ihn aber so weit wie möglich reduziert. Es arbeiten dort nur noch etwa 50 Leute, es wurden allerdings in letzter Zeit sogar ein paar Mitarbeiter zurückgeholt. Es ist trotzdem eine Kleinstfirma geworden, die noch in zwei Bereiche aufgespalten wurde. Der Servicebereich, der früher immer Gewinne eingebracht hat, wurde drastisch zurückgefahren. Es ist aber gut, dass überhaupt noch Maschinen dort gebaut werden. Ich hoffe auf ein langsames, aber langfristiges Wachstum.

 Die Maikundgebung der Gewerkschafter im Jahr 2014 mit Familienfest auf dem Kapuzinerplatz.

Die Maikundgebung der Gewerkschafter im Jahr 2014 mit Familienfest auf dem Kapuzinerplatz.

Foto: Isabella Raupold (Archiv)

Auch Schorch speckte 2015 mal wieder personell ab, bei SMS lief es ebenfalls nicht rund. Wie ist die Gladbacher Industrie derzeit aufgestellt?

Lehmann Schorch ist sicher ein Problem, und es gibt noch andere Sorgenkinder, aber bei SMS sieht es einigermaßen gut aus. Trützschler und Scheidt & Bachmann sind leuchtende Beispiele für Erfolg.

Wie wichtig für den Standort wäre es, wenn SMS seine Ankündigung, die Firmenzentrale nach Gladbach zu verlagern, tatsächlich umsetzt?

Lehmann Das wäre ein ausgesprochen wichtiges Signal für den Industriestandort Mönchengladbach. Wir haben hier sehr viel Logistik, aber zu wenig verarbeitendes Gewerbe. Das hat Auswirkungen auch auf die Stadt selbst und die Kaufkraft der Bürger. In der Logistik werden im Durchschnitt 9,50 Euro pro Stunde verdient, ein Schlosser dagegen bekommt 20 Euro die Stunde.

Also brauchen wir mehr Neuansiedlungen?

Lehmann Ja, wir brauchen vor allem Zukunftsindustrien. Davon gibt es in Mönchengladbach definitiv zu wenig. SMS ist allerdings ein Beispiel dafür, dass es klappen kann. Natürlich hat sich auch die Ansiedlung von Logistikunternehmen positiv ausgewirkt. Zalando war eine Wohltat für den Mönchengladbacher Arbeitsmarkt. Aber ein Stundenlohn von etwa 9,80 Euro reicht eben nicht für eine Rente oberhalb der Sozialhilfe. Dafür muss man wenigstens 12,50 Euro verdienen. Die Logistikbranche zahlt schlecht, erwartet aber ständig Leistung.

Es gibt jetzt den Mindestlohn ein Jahr. Wie hat er sich hier ausgewirkt? Hat er Arbeitsplätze gekostet?

Lehmann Wir sehen den Mindestlohn als sehr positiv an. Er hat keine Arbeitsplätze gekostet, sondern es wurden bundesweit 55.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Gleichzeitig ist die Zahl der Minijobs gesunken, das heißt, dass diese Stellen in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umgewandelt wurden.

Gibt es Branchen, in denen der Mindestlohn umgangen wird?

Lehmann: Uns liegen für Mönchengladbach keine konkreten Informationen vor, die zeigen, dass der Mindestlohn umgangen wird. Es gibt sicherlich Branchen, da wird es versucht. Aber ich kenne hier in der Stadt keine.

Beim Bundesverfassungsgericht liegt die Entscheidung über das Tarifeinheitsgesetz. Haben Sie Sorgen um die kleinen Spartengewerkschaften?

Lehmann Das kann man unterschiedlich sehen. Meine persönliche Meinung ist, dass sich etwas ändern musste. Ich erinnere mich an Zeiten, da gab es eine Gewerkschaft in einem Betrieb. Bei den Spartengewerkschaften ist vieles passiert, das übertrieben und unnötig war. Ich meine, dass sich die Gewerkschaften vor Verhandlungen mit den Arbeitgebern an einen Tisch setzen sollten und hinterher gemeinsam verhandeln.

Es gibt allerdings auch Stimmen, die die Tariffreiheit durch das neue Gesetz gefährdet sehen. Ob bei der Bahn oder der Lufthansa: Gewerkschaftliche Aktivitäten waren 2015 in der Öffentlichkeit oft unpopulär, bei Arbeitnehmern gab es aber großen Zulauf. Hat das einen Einfluss auf Ihre Mitgliederzahlen?

Lehmann Durch die Streiks haben wir keinen besonderen Zulauf zu verzeichnen gehabt. Wir sind froh, wenn wir die Mitgliederzahlen halten. Es gab keinen besonderen Schub durch die Streiks. Wenn sie sich überhaupt in diesem Bereich ausgewirkt haben, dann leicht negativ. Der Normalbürger hat das Verhalten der Spartengewerkschaften nicht verstanden, deshalb war das Ganze insgesamt eher schlecht für die Gewerkschaften.

Welches Thema wird denn in diesem Jahr besonders wichtig? Worum werden sich Veranstaltungen am 1. Mai drehen? Der Tag der Arbeit fällt in diesem Jahr auf einen Sonntag.

Lehmann Ja, der 1. Mai ist ein Sonntag, aber das wirkt sich erfahrungsgemäß eher positiv auf den Besuch der Veranstaltungen aus. Bei einem verlängerten Wochenende wäre das schwieriger. Wir müssen uns nur mit den Kirchen über den Beginn der Veranstaltungen einigen. Die Themen sind noch nicht festgezurrt, aber es wird sicherlich um den Mindestlohn gehen, um Leiharbeit und um Werksverträge. Werksverträge sind wirklich ein Übel, das zum Himmel stinkt. In Mönchengladbach wird ein Vertreter der IG Bau als Hauptredner sprechen.

Es gibt einen neuen Rekord bei der Zahl sozialversicherungspflichtiger Stellen, sie klettern seit Jahren beständig. Wie schlägt sich das auf die Situation und die Stimmung der Arbeitnehmer hier nieder?

Lehmann Die Stimmung ist entspannter als früher, aber das ist auch weitgehend von der Situation des einzelnen Betriebs abhängig. Generell rate ich ab von Euphorie und mahne eher zur Vorsicht. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist sehr unterschiedlich. Ich hatte zum Beispiel Kontakt mit einem arbeitslosen Diplom-Kaufmann, der hat 500 Bewerbungen geschrieben und dennoch keinen Erfolg gehabt. Ingenieure dagegen werden gesucht.

Wie gravierend ist bereits das Thema Fachkräftemangel?

Lehmann Da kann ich nur mit einer Gegenfrage antworten. Wie passt der Fachkräftemangel zu der Tatsache, dass nur 20 Prozent der Firmen überhaupt ausbilden? 2015 gab es in Gladbach rund 3600 Ausbildungsplätze, aber 5800 Ausbildungsplatzsuchende. Firmen, die nicht ausbilden, werden merken, dass man Fachkräfte nicht nur auf dem Markt einkaufen kann. Oder wenn man es tut, muss man extrem gut bezahlen.

Was können die Gewerkschaften zur Integration junger Flüchtlinge konkret beitragen?

Lehmann Das soziale Engagement ist in Gewerkschafterkreisen extrem hoch. Wir fordern auch grundsätzlich, dass Flüchtlinge, die einen Ausbildungsplatz haben, eine fünfjährige Aufenthaltsberechtigung bekommen. Allerdings haben auch andere Gruppen Ausbildung nötig. Offensichtlich schaffen wir es ja noch nicht einmal, alle hier Lebenden auszubilden. Da müssen die Firmen in die gesellschaftliche Verantwortung genommen werden.

Welchen Wunsch haben Sie für 2016?

Lehmann Mitglieder! Ich wünsche mir mehr Gewerkschaftsmitglieder, vor allem junge. Wir sind hier auf einem recht guten Weg, aber wir müssen weiter gezielt intensive Mitgliederwerbung betreiben. Vor allem in der Logistikbranche ist das schwer. Die Leute kommen oft aus der Arbeitslosigkeit und sind nicht gewerkschaftlich organisiert. Oft herrscht auch politisches Desinteresse. Ich hoffe, die Leute merken, dass sie die Vertretung ihrer Rechte durch Gewerkschaften brauchen.

ANGELA RIETDORF, JAN SCHNETTLER UND ANDREAS GRUHN FÜHRTEN DAS INTERVIEW

(RP)
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