Redaktionsgespräch mit Helmut Wallrafen-Dreisow Wir öffnen uns hin zu den Quartieren

Mönchengladbach · Der Geschäftsführer der Sozial-Holding sagt, warum die Angst vor dem Tod auf die Pflege projiziert wird, und welche neuen Pflegeangebote es gibt. Und er spricht über die Diskrepanz zwischen dem Anspruch an die Pflege und der finanziellen Situation.

 Helmut Wallrafen-Dreisow fordert unter anderem mehr Geld für ambulante Pflegedienste. Es gebe zu wenig ambulantes Fachpersonal.

Helmut Wallrafen-Dreisow fordert unter anderem mehr Geld für ambulante Pflegedienste. Es gebe zu wenig ambulantes Fachpersonal.

Foto: Detlef Ilgner

Die Sozial-Holding ist mit dem "Best Employers international Award" der AARP ( American Association of Retired Persons), dem größten Seniorenverband der Welt, ausgezeichnet worden. Die Auszeichnung bezieht sich speziell auf die Förderung von Arbeitnehmern über 50 Jahren. Wie sieht das bei Ihnen im Detail aus?

Helmut Wallrafen-Dreisow Beispielsweise wenn Kollegen in Rente gehen, bedanke ich mich zunächst für die geleistete Arbeit - und frage sie dabei, ob sie sich vorstellen könnten, auf 450-Euro-Basis für uns weiterzuarbeiten. Die große Herausforderung in der Pflege ist, dass die Betreuung an 365 Tagen im Jahr verfügbar sein muss und viele Beschäftigte in Vollzeit angestellt sind. Ich bin immer an erfahrenen Mitarbeitern interessiert, die nicht mehr Vollzeit arbeiten wollen. Die können wir dann als Springer einsetzen.

Aber 450-Euro Kräfte ersetzen dann doch nicht etwa die Vollzeitstellen?

Wallrafen-Dreisow Nein, natürlich nicht. Die springen ein, wenn Kollegen schwanger sind, Elternzeit nehmen oder kurzfristig wegen Krankheit ausfallen. Damit fangen wir Lücken im Betrieb auf und bieten den Kollegen eine Möglichkeit, ihre Rente aufzustocken. In den letzten vier Jahren haben etwa 25 Kollegen das Angebot angenommen. Sie sind wertvoll für uns, denn sie haben einfach die Erfahrung und kennen die Abläufe. Diese Mitarbeiter übernehmen Patenschaften, die sich bei uns gut bewährt haben.

Mit welchen Maßnahmen unterstützen Sie außerdem noch die Arbeitnehmer?

Wallrafen-Dreisow Seit 2012 bietet das Unternehmen den Arbeitnehmern eine psychische Beratung an, bei der sie garantiert innerhalb von vierzehn Tagen einen ersten Gesprächstermin erhalten. Wir haben es geschafft, so die Zahl der psychischen Erkrankungen zu halbieren. Dadurch sind effektiv 390 Krankheitstage weniger aufgetreten. Beschäftigte, die fit sind und sich wohlfühlen, kommen öfter zur Arbeit - und können außerdem alte Menschen besser pflegen.

Wie beurteilen Sie die Pflege-Situation in Mönchengladbach?

Wallrafen-Dreisow Mönchengladbach hat für mich ausreichend Pflegeplätze. Ich sage ehrlich, dass ich nicht erfreut darüber bin, dass in Kürze ein neues Heim eröffnet. Ich bin deshalb froh, dass durch das gerade in Kraft getretene Landesgesetz GEPA die Kommunen bald ein stärkeres Mitspracherecht erhalten. Dafür hat auch der CDU-Landtagsabgeordnete Norbert Post gesorgt. Es ist nämlich ein Skandal, dass die Kommunen, die seit Einführung der Pflegeversicherung überschießenden Pflegekosten alleine zahlen, die Pflegekassen aber die Inhalte vorgeben.

Was unterscheidet ein gutes Heim von einem weniger guten?

Wallrafen-Dreisow Ein gutes Heim ist eines, in dem ehrlich zugegeben wird, dass jeden Tag Fehler geschehen. Bei uns geschehen jeden Tag Fehler. Die Frage ist, welche Fehler man macht. Im medizinisch-technischen Bereich darf man keine machen, und die gibt es in der Regel auch nicht. Es muss ein gutes Beschwerdemanagement geben. Außerdem ist es wichtig, dass Normalität im Heim herrscht. Ist die Stimmung freundlich? Ist es gepflegt? Riecht es irgendwo nach Urin? Sind Angehörige und Gäste willkommen?

Die Angehörigen müssen Ihnen zwangsläufig vertrauen. Nehmen die Vorwürfe zu, dass sie vermeintlich Fehler gemacht haben?

Wallrafen-Dreisow Es gibt kein Feld, das die Gesellschaft und Institutionen wie MDK und Heimaufsicht so kontrollieren und diskreditieren wie die Pflege. Es gibt 40 Kontrollinstanzen, die teilweise Widersprüchliches fordern. Positiv formuliert: Ja, die Arbeit wird fortwährend spannender.

Die Menschen wollen ihre Angehörigen natürlich in guten Händen wissen ...

Wallrafen-Dreisow Das Anspruchsdenken wird immer größer, finanziell wird dem aber keine Rechnung getragen. Außerdem wird die Angst vor dem Sterben auf die Menschen projiziert, die in dem Bereich arbeiten. Da geht es uns in Gladbach noch gut, wenn man sieht, wie dagegen in anderen Großstädten in den Altenheimen gearbeitet wird.

In Mönchengladbach gibt es keine Probleme?

Wallrafen-Dreisow Das Problem, das es hier gibt, ist, dass es zu wenig ambulantes Fachpersonal gibt. Im ambulanten Dienst ist die Pflege durch enge Zeitvorgaben getaktet, das ambulante System ist nicht ausreichend finanziert.

Was kann man daran ändern?

Wallrafen-Dreisow Wir steigen als Sozial-Holding jetzt auch in den ambulanten Sektor ein, wir öffnen unsere Heime für Mischformen. Unsere Mitarbeiter gehen vom Heim ins Quartier. Wir werden diese Dienste - ganz egoistisch - nur fußläufig um unsere Heime herum anbieten. So addieren wir Arbeitszeiten von ambulanter und stationärer Pflege, natürlich finanziell sauber getrennt und tariflich entlohnt.

Was tun Sie, damit sich die alten Menschen in Ihren Heimen nicht einsam fühlen?

Wallrafen-Dreisow Grundsätzlich wollen wir, dass die Menschen so lange wie möglich zuhause bleiben können. Dann müssen die Gesellschaft und die Politik begreifen, dass das auch finanziert werden muss. Wir haben bei einem begrenzten Personalschlüssel nur begrenzte Möglichkeiten. Zusätzlich zu den Pflegern, die zu über 60 Prozent demente Menschen betreuen, übernehmen Alltagsassistenten hauswirtschaftliche Aufgaben. Seit einigen Jahren haben wir außerdem Betreuungsassistenten.

Welche Aufgaben übernehmen diese speziell?

Wallrafen-Dreisow Pro 20 dementen Bewohner wird eine Betreuungskraft finanziert. Der Schlüssel ist ab Januar von 1:25 auf 1:20 verändert worden, das sehen wir erstmal positiv - wir bekommen mehr Personal. Diese 25 Kollegen haben wir bewusst dem sozialen Dienst zugeordnet, der die Ausflüge, die Bingo-Spiele, das Vorlesen und Kraft- und Balancetraining organisiert. Der soziale Dienst hat immer alle Bewohner im Blick, damit die Angebote da ankommen, wo sie gebraucht werden.

Welche Angebote haben Sie für die Angehörigen?

Wallrafen-Dreisow Wir bieten in unserer Bildungs-GmbH gemeinsam mit der AOK Pflegekurse für Angehörige an, die sind seit anderthalb Jahren jede Woche voll. Dort lernen die Angehörigen die rechtlichen Grundlagen zur Pflegeversicherung, das richtige Lagern der Patienten. Außerdem bekommen sie Informationen zur Ernährung und über das Thema Demenz.

Wie macht sich die demografische Entwicklung bei Ihnen bemerkbar?

Wallrafen-Dreisow Allein der Altersdurchschnitt der Angehörigen liegt dominant im Rentenalter, unsere Bewohner sind im Durchschnitt 85 Jahre alt. Das wird ein Problem: Wenn eine Gesellschaft singularisiert, dann fehlen die Menschen, die sich kümmern. Auch unsere Bewohner werden älter und bleiben kürzere Zeit. Viele kommen erst in das Heim, wenn die Pflege anders nicht mehr möglich ist. Die Pflege muss fachlich hoch qualifiziert sein - vor 20 Jahren hatten wir etwa noch keine Bewohner mit Sondennahrung. Vieles hat sich verändert, und das hat eben seinen Preis.

Der demografische Wandel wird also auf jeden Fall zum Problem?

Wallrafen-Dreisow Nur, wenn man den Wandel nicht nutzt und das Altern als Chance begreift. 70-Jährige sind heute fitter als vor Jahrzehnten. Und je länger Menschen eine Aufgabe haben, desto länger sind sie fit. Da müssen wir auch arbeitsrechtlich bessere Übergänge ermöglichen. Ich habe keine Angst, dass eine Über-Pflegebedürftigkeit entsteht. Das Altern ist eben immer noch ein angstbesetztes Thema.

Wie viele Menschen erleben ihr Leben zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch als etwas Schönes?

Wallrafen-Dreisow Viele. Das zeigt unsere tägliche Erfahrung. Die Realität ist eine andere als in den Medien dargestellt. Das wollen wir durch mehr Transparenz und ein funktionierendes Beschwerdemanagement zeigen. Damit öffnen wir uns für die Öffentlichkeit. Das machen wir sowieso jeden Tag, wenn beispielsweise die Schützen, Karnevalsgesellschaften oder andere Gruppen aus dem Ort uns besuchen.

DAS INTERVIEW FÜHRTEN RALF JÜNGERMANN, JAN SCHNETTLER UND KATRIN HAAS.

(RP)
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