Redaktionsgespräch Karl Boland Wir sorgen für ein intaktes Quartier

Mönchengladbach · Das Vorstandsmitglied des Arbeitslosenzentrums sagt, warum die Standortdebatte schädlich ist und Gladbachs soziale Tradition gefährdet.

 Historiker Karl Boland ist Vorstandsmitglied des Arbeitslosenzentrums.

Historiker Karl Boland ist Vorstandsmitglied des Arbeitslosenzentrums.

Foto: Isa

Es heißt immer, Zalando und Co. sind ein Segen für die Stadt. Ein neuer Caritas-Report behauptete zuletzt aber, der Aufschwung komme bei den Langzeitarbeitslosen gar nicht an. Welche Erfahrungen machen Sie?

Karl Boland Wir sehen das anders. Firmen rekrutierten Mitarbeiter nicht nur aus Gladbach, sondern auch aus der Region. Das verursacht zwar eine Bewegung der Arbeitslosenzahlen, aber insbesondere die länger arbeitslosen Leute sind oftmals nur kurzzeitig in Jobs. Wenige dieser Menschen bleiben länger als ein Jahr dort angestellt. Langzeitarbeitslosigkeit ist eine Drehtürveranstaltung.

Was heißt das für den Arbeitsmarkt?

Boland Der Arbeitsmarkt bewegt sich für Langzeitarbeitslose weitgehend in sich selbst.

Warum gibt es denn so viele Arbeitslose, speziell im Hartz-IV-Bereich?

Boland Gladbach und Rheydt waren ein industrieller Textilstandort für Menschen mit oftmals geringer Qualifikation und niedrigen Einkommen. Spätestens in den 80er Jahren machten die letzten größeren Textilbetriebe zu, und seitdem kennt die Stadt eine hohe Arbeitslosigkeit - heute zu drei Vierteln in Form der Langzeitarbeitslosigkeit. Man sagt: Die Arbeitsplätze sind weg, die Menschen sind aber geblieben. Leider wurde der notwendige Strukturwandel am Niederrhein nicht mit öffentlichen Fördermitteln unterstützt, wie dies etwa im Ruhrgebiet im großen Stil geschah.

Was steckt hinter dem Phänomen der oftmals über Generationen "verkrusteten", "vererbten" Arbeitslosigkeit?

Boland Viele Familienmitglieder sind mittlerweile in zweiter Generation arbeitslos. Die Arbeitslosigkeit hat sich in Mönchengladbach stark "verkrustet", weil diejenigen, die langzeitarbeitslos sind, dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bleiben. Am Niederrhein kommt dazu eine immer noch spürbare Mentalität, die zum Beispiel von der "Schaffe, Schaffe Häusle baue"-Einstellung der Schwaben abweicht.

Wir sind also faul?

Boland Das kann man so nicht sagen. Aber die Niederrheiner sind historisch betrachtet nicht so energisch leistungs- und bildungsorientiert, wie das andernorts die protestantische Leistungsethik vorgab. Das ist das historische Erbe des linken Niederrheins! Das betrifft auch das Verhältnis zur Politik. Viele Mönchengladbacher gehen auch sonntags lieber zur Kirmes als zur politischen Wahl.

Wie ändert man die Mentalität der Menschen? Geht das? Ist es nötig?

Boland Da wird man bei der jungen Generation ansetzen müssen. Bildung von Anfang an bedeutet hier alles! Und da könnte in Mönchengladbach noch einiges mehr getan werden. Viel zu viele Kinder verlassen hier die Schule ohne Abschluss und stellen die neue Generation der Langzeitarbeitslosen. Gladbach steckt seit Jahren in einem finanziellen Krisenmanagement, da sind die Spielräume eng. Aber man könnte ja auch die Prioritäten ändern.

Was schlagen Sie vor? Wie kann man den Kindern dieser Eltern helfen?

Boland Das geht - wie gesagt - nur mit Arbeit an den Kindern und braucht Zeit. Wir bräuchten zum Beispiel auch eine kulturelle Offensive. Das Projekt "Jedem Kind ein Instrument" ist, mit Landesmitteln gefördert, im Ruhrgebiet zu Hause. Ich finde, alles müsste sich frühzeitig auf Bildung konzentrieren.

Wie steht es um die Eltern der Kinder, die Sie beschrieben haben?

Boland Die langzeitarbeitslosen Eltern haben am ersten Arbeitsmarkt so gut wie keine Chance. Dafür bräuchten wir den zweiten Arbeitsmarkt: ein Jobangebot für Niedrigqualifizierte mit normalen Einkommen, damit sie ihre Familien ernähren können. Wir können nicht zulassen, dass Menschen trotz Arbeit mit Hartz IV aufstocken müssen.

Welche Menschen kommen zu Ihnen ins Arbeitslosenzentrum, wo Sie Vorstandsmitglied sind?

Boland In die Sozialberatung kommen erwachsene Ratsuchende aus dem ganzen Stadtgebiet. Immer mehr übrigens auch mit Zuwanderungshintergrund. Im Begegnungs- und Mittagstischbereich kommen eher ältere Menschen im Durchschnittsalter von 55 Jahren. Und dies vorwiegend aus dem Mönchengladbacher Innenstadtbereich. Die Masse ist auf Arbeitslosengeld II, niedrige Rente oder Grundsicherung angewiesen.

Woran machen Sie das fest?

Boland Wir haben die "Treffkarte", ein Nachweis für Menschen, die bedürftig sind, die zu uns kommen und damit das Mittagessen für zwei Euro bekommen. Anhand der Postleitzahlen sehen wir, dass drei Viertel aus dem Quartier und um den Abteiberg kommen.

Was ist das Besondere am Arbeitslosenzentrum?

Boland Wir haben Beratung, Begegnung und Mittagstisch unter einem Dach. In NRW ist das völlig untypisch für ein Arbeitslosenzentrum; das Landesarbeitsministerium hält dies aber für besonders zukunftsorientiert. Es ist ein Ort, an dem Menschen nicht immer gefragt werden: Warum bist du arbeitslos? Sie kommen hier miteinander ins Gespräch, statt zuhause zu sitzen und sich zu isolieren. Begegnung ist wichtig! Dazu bieten wir einen kostenlosen Service zur Optimierung von Bewerbungsunterlagen an.

Sehen Sie sich als Interessenvertretung aller Arbeitssuchenden?

Boland Als Verein setzen wir uns laut Satzung für die Interessen der Arbeitslosen in der Öffentlichkeit ein. Aber an erster Stelle geht es in der Beratung um die wirtschaftliche Stabilisierung der Menschen. Das ist das Kernanliegen. Wenn eine Familie permanent im finanziellen Krisenmanagement steckt, kommt keiner dazu, sich konzentriert und kontinuierlich um Arbeit zu kümmern. Daneben geht es um psychosoziale Betreuung der Ratsuchenden und um Engagement gegen Isolation und Ausgrenzung.

Können Sie Zahlen nennen?

Boland Wir haben im Jahr 3000 Beratungsgespräche, die zwei Berater per Telefon, per Mail oder persönlich führen. Der Mittagstisch wird gut angenommen. 11 000 bis 12 000 Essen im Jahr geben wir aus. Am Tag sind das im Begegnungsbereich etwa 50 Besucherkontakte - das sind auch etwa 12 000 im Jahr.

Wie sieht ihr Finanzkonzept aus?

Boland Wir haben im letzten Jahr ein leichtes Minus gemacht, da wir 50 000 Euro in die Küche investiert haben, die vorher angespart wurden. Neben den Finanzierungen der Sozialberater über die Stadt und über das Landesarbeitsministerium kommt das Geld für den Mittagstisch unter anderem aus Stiftungen. Die Wilberz-Stiftung gibt einen größeren Betrag jeden Monat. Die Diergardt-Stiftung gibt im Jahr rund 10 000 Euro. Aber auch die Stadtsparkasse hat die Investitionen mit gefördert. Und der Solidaritätsfonds des Bistums Aachen gibt regelmäßig 9000 Euro. Dazu stellt die Stadt das Haus mietfrei. Das hilft uns sehr - für Miete hätten wir keinen Etat.

Zuletzt ist, im Rahmen des Bauvorhabens Roermonder Höfe, Ihr Standort aber plötzlich fraglich geworden.

Boland Ja. Eine völlige Umkehrung der vorherigen Politik. Wir haben in steter Abstimmung mit der Stadt über die Jahre weit über 120 000 Euro in das Haus gesteckt, mit Blick auf den demografischen Wandel wollen wir es jetzt nach und nach barrierefrei umbauen. Unter Norbert Bude wurden unsere Pläne unterstützt. Aber am 16. Dezember 2014 kam das Gespräch mit Hans Wilhelm Reiners. Er sagte: "Ich schätze Ihre Arbeit, aber ich sehe sie nicht mehr an Ihrem Standort Lüpertzender Straße." Der Abteiberg soll städtebaulich entwickelt werden, und da gehört das Arbeitslosenzentrum nicht mehr dazu. Wir waren wie vom Blitz getroffen. Sowas haben wir noch nie erlebt.

Wie haben Sie reagiert?

Boland Wir haben versucht, Besonderheiten und Vorzüge des jetzigen Standortes für unsere Klientel herauszustellen. Aber binnen zwei Jahren soll laut Verwaltung der Umzug vollzogen sein. Wohin, wissen wir bis heute nicht. Und: In Zukunft soll das Arbeitslosenzentrum nicht mehr mietfrei laufen. Wir haben aber keinen Etat für Mietkosten. Und wenn die Stadt die anteilige Miete in den Leistungsvertrag für die Sozialberatung einpreisen würde, wäre damit nur rund ein Drittel des Raumbedarfs abgedeckt. Mit dem Rest - sprich Mittagstisch und Begegnung - hingen wir in der Luft.

Die Stadt kann einen Mietanteil fordern?

Boland Theoretisch ja - praktisch wäre das das Ende der Einrichtung. Und das nach über 30 Jahren auf der Basis der bisherigen Regelung! Wenn die Stadt Ihnen ein anderes, gleichwertiges Gebäude anböte, wären Sie denn bereit? BOLAND Klar. Bei einem funktional gleichwertigen Raumangebot, in ähnlicher Citylage und mit gelöster Finanzierungsfrage, kann man über alles reden. Wir sind ja keine Ideologen. Wir wollen unsere Arbeit fortsetzen! Im Augenblick machen wir Werbung für den jetzigen Standort, weil wir mehr ungelöste Fragen sehen als brauchbare Vorschläge.

Gibt es in Gladbach denn einen Versuch, sozial Schwache aus ihren Wohnquartieren zu verdrängen?

Boland Nein. Aber wenn sowas hier in Gang gesetzt würde, wäre das ein Horrorszenario. Die soziale Tradition Mönchengladbachs kennt die soziale Verantwortung der Menschen im Wohlstand und die Nachbarschaft, Tür an Tür, von Arm und Reich. Das hat uns den sozialen Frieden bewahrt. In Städten mit Gentrifizierungsprozessen kommt es immer wieder zu gewalttätigen Krawallen in den betroffenen Quartieren. Was heißt diese Standortunsicherheit konkret für Sie? Man weiß ja nicht, ob es Sie künftig noch gibt. BOLAND Die nicht von uns aufgeworfene Standortfrage produziert Unsicherheit. Natürlich. Wir wollen deswegen eine rasche Klärung. Es gibt schon Signale, dass sich Spender fragen, ob es sich noch lohnt, in das Haus und unsere Arbeit zu investieren. Das alles hat Folgeprobleme, die nur Schaden anrichten.

Hat die Stadt Ihnen ein Zeitfenster gegeben?

Boland Wie gesagt, zwei Jahre. Wir plädieren aber dafür, alles so zu machen wie bisher. Niemand hätte Schaden. Wir sind nette Nachbarn. Das Quartier wäre intakt. Und die Stadt hat eine wertvolle Sozial-Immobilie, die der Stadt nichts gekostet hat. Warum soll das die Stadt nicht annehmen?

JAN SCHNETTLER, KILIAN TRESS UND DIETER WEBER FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

(RP)
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